Adlershof war für mich eine riesige Spielwiese
Wie Schauspieler Moritz Russ durch seinen Kiez zum Künstler wurde
Erst Adlershof, dann die ganze Welt? Bei Moritz Russ wäre das denkbar, denn er ist Visionär und Künstler zugleich. Seine Jugend in Adlershof war ein Türöffner in die Welt des Künstlerdaseins. Russ ist ein Tausendsassa, der eigene Gedichte schreibt, sie vertont und Musikvideos daraus macht, Filme produziert und Mann, Frau oder Kind spielt oder alle zusammen. Mittlerweile studiert der Anfang 20-Jährige an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Der Weg dahin war eine Mischung aus Zufall und Passion.
Seine Mutter arbeitet als Erzieherin für geistig behinderte Menschen, sein Vater als Servicetechniker. Keine Berufsbilder, die Russ für sich anstrebte: „Mein Herz schlug schon immer für die Kunst, wenn auch im Stillen. Ich war ein Außenseiter, der schwarze Kleidung trug und sich immer in der letzten Reihe versteckte.“ Russ hatte keinerlei Ambitionen, jemals auf großen Bühnen zu stehen. Als er mit acht Jahren von einer Vertretungslehrerin der Heide-Grundschule aufgefordert wurde, vor seiner Klasse eigene Geschichten vorzutragen, entdeckte Russ sein Bühnen-Ich: „Ich war verwundert und verwirrt, dass das so gut ankommt.“
Vor kurzem hat er sich bei seiner Lehrerin bedankt, die ihm auch erste Aufträge als Synchronsprecher vermittelte, so zum Beispiel für „Pinocchio“ mit Mario Adorf, Anke Engelke und Ulrich Tukur. Russ ging seinen Weg, bespielte Adlerhof mit über 300 Projekten. Er machte unter anderem Puppentheater, veranstaltete im KIEZKLUB der Alten Schule in der Dörpfeldstraße Lesungen mit eigenen Texten und lud zum Sommertheater in der Kleingartenanlage Am Adlergestell. Leute haben mitgeholfen und kostenlos Kostüme geschneidert. „Adlershof war für mich eine riesige Spielwiese. Selbst im Dönerladen und in einer Kirche habe ich Filme gedreht. Das fand ich schon cool, als Jugendlicher Kunst und Kultur in Adlershof zu prägen. So etwas wie Livehörspiele oder Kurzfilmabende gab es vorher gar nicht.“ Am Ende standen um die 300 Leute auf dem Gehweg vor dem „Kino Casablanca“ Schlange.
Im vergangenen Jahr wurde Russ gefragt, ob er Lust hat, Teil einer Imagekampagne „Wir Adler“ des Lebendigen Zentrums Dörpfeldstraße zu sein. Er sagte zu und ließ sich im Kino fotografieren. Für ihn bedeutet der Kiez viel. Deshalb bietet er im Rahmen des Adlershofer Brückenschlags on Tour von WISTA Management GmbH und Lebendige Zentren und Quartiere Dörpfeldstraße „Kunst- und Kulturspaziergänge“ durch Adlershof an – die nächsten zwei im September dieses Jahres –, wo er auch über all die Projekte spricht, die er schon realisiert hat. Als er seine Gedichtsammlung „Notizen“ zum Beispiel vertonte, drehte Russ im legendären Großen Windkanal. Eigentlich ist der Windkanal nicht öffentlich zugänglich und die Miete teuer, aber wo ein Russ ist, da ist auch ein Weg. „Ich habe mehrere Wochen nach dem richtigen Kontakt gesucht, dann habe ich eine nette Mail geschrieben und mich vorgestellt und es hat geklappt!“ Als eine große deutsche Band im Windkanal drehte, gab es 30 Minuten Leerlauf und Russ konnte einspringen. Der Einsatz der Band blieb geheim, die einzige und einfache Bedingung war, dass Russ ein paar schöne Bilder aus dem Windkanal liefert. „Hätte ich den Platz nicht bekommen, dann wäre mir sicher etwas anderes eingefallen. Ich halte es da immer so ein bisschen wie Christoph Schlingensief: ‚Scheitern ist auch eine Chance.‘“
Russ arbeitet gern, ohne einen Plan B in der Tasche zu haben: „Wenn ich ein Ziel habe, gebe ich alles.“ So war das auch bei seiner Bewerbung an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Er kam, sah und siegte. Neben Schauspiel lernt Russ nun seit April 2023 auch steppen, singen und fechten, studiert Theatergeschichte und bringt neue Stücke auf die Bühne. Sein Highlight: „Ich durfte in ‚Der kaukasische Kreidekreis‘ von Bertolt Brecht alle acht Nebenrollen vom Adligen bis zum Bauer übernehmen.“ Russ grinst. Er hätte es auch mit mehr Rollen aufgenommen. Der Schauspieler ist seinem Kiez dankbar, dass er in den letzten Jahren so viel lernen durfte. Und was bedeutet sein Ruhm nun den Adlershofer:innen? „Ich werde manchmal beim Bäcker vorgelassen.“
Susanne Gietl für Adlershof Journal