Agil und dennoch strategisch gründen
Ein Interview mit Heike Hölzner, Professorin für Entrepreneurship an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin
Wie schaffen es Start-ups, den Kurs ihrer ursprünglichen strategischen Planung zu halten, wenn sie im unternehmerischen Alltag schnell und flexibel auf Bedürfnisse ihrer Kundschaft reagieren müssen? Und wie detailliert sollten sie im Voraus überhaupt planen? Als Professorin für Entrepreneurship, die sich an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin in der Theorie und Praxis mit Start-ups und den Erfolgsfaktoren von Gründungen beschäftigt, hat Heike Hölzner einige überraschende Antworten auf diese Fragen. Sie kann dabei auf eigene Erfahrungen als Gründerin, Coach und Business Angel zurückgreifen.
Frau Prof. Hölzner, Sie befassen sich in Ihrer Forschung und Lehre mit Entrepreneurship, waren selbst Gründerin und coachen Start-ups bei der Team- und Geschäftsmodellentwicklung und Finanzierung. Was macht erfolgreiche Gründungen aus?
Um das trotz aller Vielschichtigkeit auf eine kurze Formel herunterzubrechen, würde ich das Team in den Fokus stellen. Es braucht eine gute Mischung aus zwei gegenläufigen Eigenschaften: Zielstrebigkeit und Anpassungsfähigkeit. Auf der einen Seite geht es um die Vision, für die ein Team brennen und die es gegenüber Investorinnen und Investoren glaubhaft vertreten muss. Auf der anderen Seite wird kaum ein Start-up mit der ursprünglichen Gründungsidee erfolgreich. Vielmehr geht es darum, diese nach und nach an die Bedürfnisse der Kundschaft anzupassen, bis der ‘Product-Market-Fit’ erreicht ist. Hierfür müssen Teams bereit sein, Kritik anzunehmen und liebgewonnene Ideen ad acta zu legen, wenn diese am Marktinteresse vorbeigehen. Erfahrungsgemäß fällt die Balance zwischen Zielstrebigkeit und Anpassungsfähigkeit den Teams leichter, die einen breiteren Fundus an Erfahrungen und Perspektiven haben, weil sie vom Alter, Geschlecht, Herkunft, den fachlichen Disziplinen oder auch von der Berufserfahrung her gemischt sind. Denn je homogener eine Gruppe von Menschen ist, desto eher neigt sie dazu, sich zu schnell einig zu werden und sich gegen Kritik von außen abzuschotten. Es ist wichtig, sich so früh wie möglich dem Feedback der Kundschaft auszusetzen – und von Vorteil, wenn es Teammitglieder gibt, die bereits in etablierten Unternehmen tätig waren und daher wissen, wie dort gedacht und agiert wird.
Beim Erarbeiten des Businessplans geht es darum, das Geschäftsmodell zu reflektieren und zu fixieren. Wie gelingt es im turbulenten Alltag, dem roten Faden der ursprünglichen Planung zu folgen?
Ich bringe meinen Studierenden nicht bei, einen Businessplan zu schreiben. Aus den eben genannten Gründen ist es für innovative Technologie-Start-ups schwierig und mitunter sogar kontraproduktiv, ihre Geschäftsidee frühzeitig zu fixieren. Denn darin liegt eine psychologische Gefahr: Weil sie festgeschrieben ist, ist es schwerer, von der Planung abzuweichen. Erst recht, wenn ich diesen Plan mit Dritten geteilt habe und mich ihnen gegenüber diffus zur Umsetzung verpflichtet fühle. Weiche ich davon ab, wirkt das wie ein Eingeständnis, nicht richtig geplant oder sorgfältig genug gearbeitet zu haben. So stellen Teams, die mit ihrer Innovation unbedingt offen für das Feedback der Märkte bleiben, sich hinterfragen, anpassen und neu erfinden müssen, sich selbst eine Falle. Die detaillierte Niederschrift steht dem nötigen Mindset entgegen. Daher ist der Businessplan bei Start-ups und Investierenden nicht mehr sehr beliebt.
Was rückt an seine Stelle?
Flexiblere Formate, die die zentralen Funktionen des Businessplans ebenfalls erfüllen. Das ist einerseits die Planungsfunktion, die Teams dazu zwingt, ihre Idee analytisch komplett zu durchdringen. Daneben dient ein Businessplan der Information gegenüber Dritten; klassischerweise den Banken. Und er hat eine Marketingfunktion, denn ein sauber gebundener Businessplan mit schickem Layout macht etwas her. Er signalisiert, dass ein Team sauber, kompetent und seriös arbeitet. Doch um diese Funktionen zu erfüllen, genügen auch gängige Geschäftsmodellmuster. Sie in gebotener Kürze auszufüllen, erfordert sogar eher mehr analytische Vorarbeit als ein Businessplan. Auch für das Erarbeiten eines sogenannten Pitch-Decks sind ein klarer Blick und reifliche Überlegung nötig, wie sich Investorinnen und Investoren welche Informationen vermitteln lassen. Und ein Excel-Finanzplan mit entsprechendem Anhang deckt ebenfalls das Notwendige ab. Diese Formate haben den Vorteil, dass sie am Potenzial orientiert sind, sich also darauf fokussieren, was in näherer Zukunft tatsächlich erreichbar ist. Sie schreiben die Planung nicht ein für alle Mal fest.
Etablierte Unternehmen schätzen in Kooperationen mit Start-ups deren Agilität, Flexibilität und unverstellten Blick. Auch das spricht gegen zu viel Planung in der Gründungsphase – oder?
In etablierten Unternehmen ist langfristiges Planen die Regel. Sie können die Methode auch anwenden, weil sich ihr Geschäftsmodell bewährt hat und ihre Strategie letztlich historische Daten in die Zukunft fortschreibt. Das kann ein Start-up nicht. Denn es besteht anfangs aus vielen Annahmen, die es nach und nach testen, validieren und verifizieren muss. Dieses agile Gründen ohne Businessplan ist keineswegs mit Planlosigkeit gleichzusetzen. Vielmehr gehen die Teams experimentell vor und folgen einer klaren Struktur. Ich beobachte, dass die Start-ups in den 15 Jahren, in denen ich in der Start-up-Community aktiv bin, methodisch immer professioneller vorgehen. Oft erinnert mich das an wissenschaftliche Forschung: Sie stellen Thesen auf, definieren die größten Unsicherheiten ihres Modells und gehen diese als erstes an, um bei Bedarf frühzeitig gegensteuern zu können. Die Agilität und Veränderungsbereitschaft sind für Konzerne sehr interessant. Denn sie können so nicht arbeiten, da ihre Kundschaft von ihren neuen Produkten auf Anhieb Perfektion erwartet. Das setzt eine sehr gründliche Entwicklungsphase voraus. Dafür haben sie starke Strukturen, um Lösungen schnell und international zu skalieren. Gelingt es, eine solche Konzernstruktur mit der Agilität von Start-ups zu vereinen, dann birgt das für beide Seiten große Chancen.
Sie haben selbst ein Start-up gegründet, waren in Konzernen tätig und forschen nun über Kooperationen von etablierten und neugegründeten Unternehmen. Was verbindet – und was trennt beide Welten?
Beides sind gewinnorientierte Unternehmen, die sich aber vom Alter und den Strukturen her unterscheiden. Und in beiden Welten menschelt es. Auch bei Konzernen und etablierten Mittelständlern stehen und fallen Projekte mit den handelnden Personen. Persönlichkeit zählt in beiden Welten. Ein Unterschied liegt darin, wie sie agieren. Die nötige Sorgfalt etablierter Unternehmen, die den Ruf ihrer Marke zu verteidigen haben, führt zu einer gewissen Trägheit. Sie ist in Ordnung, weil ihr Geschäftsmodell bewährt und die Kundenbindung hoch ist. Start-ups gehen hemdärmeliger vor. Sie machen und sind bei Bedarf bereit, sich zu korrigieren. Ihre Kundschaft ist toleranter gegenüber Fehlern und erwartet nicht, dass sie perfekt sind – sondern ideenreich und flexibel.
Wie wichtig sind der heutigen Generation von Gründenden ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltige Geschäftsmodelle?
Nachhaltigkeit ist ein klarer Trend. Die Teams machen sich oft schon ganz zu Beginn Gedanken darüber, welche Kultur und welchen Umgang miteinander sie pflegen wollen. Viele gründen mit ökologischen Geschäftsideen und auch wenn das nicht der Fall ist, haben sie ihren Carbon-Footprint klar im Blick. Die soziale Dimension und Verantwortung des Unternehmertums ist bei heutigen Gründungsteams sehr präsent.
Kommen wir zur Finanzierung. Für die Frühphase gibt es viele staatliche Förderangebote. Aber wie steht es um Wachstumsfinanzierungen?
So manches Team erlebt beim Wechsel von der staatlichen Förderung hin zur privaten Finanzierung einen Kulturschock. Zwar sinkt der Verwaltungsaufwand und Wege werden kürzer. Doch plötzlich redet Jemand mit, verhandelt hart über die Bewertung des Start-ups und die Konditionen der Beteiligung – und formuliert Zielvorstellungen und Anforderungen. Investorinnen und Investoren handeln profitorientiert, während der Staat auch den gesellschaftlichen Nutzen im Blick hat. Die Lage bei Wachstumsfinanzierungen war in den Coronajahren verzerrt. Es war zu viel Kapital im Markt, was teils übertriebene Bewertungen zur Folge hatte. Nun wendet sich das Blatt. Es wird schwieriger, Risikokapital einzuwerben. Hier ist Vorsicht geboten, weil die erfolgversprechendsten Start-ups dazu neigen, dem Geld in die Länder zu folgen, in denen es reichlicher fließt. Es wäre fatal, wenn die mit staatlichen Fördergeldern aufgepäppelten Start-ups abwandern. Daher sollte die Bundesregierung mit fiskalpolitischen Maßnahmen dazu beitragen, mehr privates Wachstumskapital in Deutschland und Europa zu mobilisieren.
Auch bei Finanzierungen besteht ein Spannungsfeld zwischen zu starrer Planung und zu viel Spontaneität. Gibt es einen richtigen Zeitpunkt, um Wachstumskapital einzuwerben?
So sehr die Teams das Thema im Blick haben sollten, so sehr rate ich davon ab, Wachstumskapital zu früh einzuwerben. Denn dem damit verbundenen Wachstumsdruck ist nicht jedes Team gewachsen. Daher müssen sie sich die Frage beantworten, ob sie schon so weit sind. Es gibt hierfür zwei relevante Meilensteine. Im Stadium des ‘Problem-Solution-Fit’ (das Start-up gibt mit seiner Lösung die passende Antwort auf ein Problem seiner zahlungsbereiten Kundschaft) reichen staatliche Förderung, Eigenkapital oder Investments von Business Angels in der Regel vollkommen aus. Erst wenn sie den zweiten Meilenstein – den eingangs erwähnten ‘Product-Market-Fit’ – erreichen, ist es sinnvoll, Wachstumskapital einzuwerben. Denn erst dann zeigt sich, dass der Markt die Lösungen eines Start-ups zu einem Preis annimmt, der die Kosten optimalerweise deckt. Ist dieser ‘Product-Market-Fit’ noch nicht erreicht, droht ungesundes Wachstum. Das Kapital dient dann oft dazu, Löcher zu stopfen, die die Skalierung ohne Kostendeckung zwangsläufig reißt. Anstelle erhoffter Gewinne wachsen bei zu früher Skalierung die Verluste, bis die Geldgebenden den Stecker ziehen. Um diese Negativspirale zu vermeiden, sollten Start-ups ihr Wachstum erst dann mit Risikokapital forcieren, wenn sie ihre Lösungen tatsächlich zum kostendeckenden Preis vertreiben können.
Zur Person:
Seit 2017 leitet Prof. Dr. Heike Hölzner die Professur für Entrepreneurship und Mittelstandsmanagement an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Zu ihren Forschungsthemen gehören die Entwicklung der Deep-Tech-Start-up-Szene in Europa und Blockchain-basierte Geschäftsmodellinnovationen, Kooperationsmodelle zwischen Start-ups und etablierten Unternehmen sowie die Digitale Transformation und Agiles Management. Hölzner coacht auch Start-ups und lehrt an der HTW im Bereich Entrepreneurship. Im Jahr 2015 hat sie zudem selbst ein E-Commerce Start-up gegründet.