Andere Länder – andere MINT-Sitten
Was können wir von den Nachbarn lernen
Wie lässt sich mathematisch-naturwissenschaftliches Interesse wecken? Diese Frage stellen sich Bildungsinstitutionen und -politiker in der ganzen Welt. Wo lässt sie sich universeller erörtern, als im globalen Wissenschaftsdorf Adlershof? Forscherinnen und Forscher aus sechs Ländern berichten über ihre Motive und Motivatoren, Naturwissenschaften und Mathematik zu ihrer Lebensaufgabe zu machen.
Engagierte Lehrer wichtig
„Ich erinnere mich nicht, ob jemand meine Begeisterung für Naturwissenschaften besonders geweckt hat“, sagt Fariba Hatami, „wichtiger ist aber, dass auch niemand meine Begeisterung gestoppt hat.“ Hatami wuchs im Iran auf, wo sie von 1972 bis 1984 zur Schule ging, davon die zweite Hälfte ihrer Schulzeit nach der Islamischen Revolution. Schon als kleines Kind experimentierte sie mit Pflanzen und Lebensmitteln. Ihre erste Armbanduhr zerlegte sie mit neun Jahren, um die Mechanik zu verstehen. „Der Lerneffekt war groß, die Uhr danach leider hin“, lacht sie. Während die Welt auf den Umsturz in Teheran schaute, begriff die Schülerin die Mechanik der Wissenschaft. „Wir hatten gut ausgestattete Labore und begeisterte Lehrkräfte. Ich lernte, dass man aus Ergebnissen systematischer Experimente Erklärungsmodelle für Ereignisse entwerfen und anhand der
Modelle Ereignisse vorhersagen kann.“
Mit 16 war ihr klar, dass ihr Herz für Physik schlägt. Sie entschied sich für ein Studium in Deutschland. „Hier angekommen, fragte mich eine Studentin, wieso ich als Frau Physik studieren möchte. Im Iran war das nie ein Thema“. Noch immer haben ihre Neffen und Nichten im Iran gleichen Zugang zu Bildung, an den Unis waren Frauen in MINT-Fächern oft in der Überzahl. Doch seit die Regierung kürzlich die Geschlechtertrennung verordnete, sind sie an vielen Unis unerwünscht.
Fariba Hatami promovierte am Institut für Physik der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) über selbstorganisierende Nanohalbleiter für Leuchtdioden, ist dort nun wissenschaftliche Mitarbeiterin und bildet angehende Physiker aus. Als dreifache Mutter liegt ihr eine bessere MINT-Ausbildung hierzulande am Herzen. Engagiertere Lehrer wünscht sie sich. „Vielleicht sollten wir bei den Erwachsenen ansetzen, damit sie das natürliche Interesse der Kinder nicht abwürgen“. Auch TV-Formate wie die Sendung mit der Maus für ältere Kinder und interessierte Erwachsene könnten helfen, Barrieren zur immer komplexeren Welt der Wissenschaften abzubauen.
Entwicklungspotenzial beim außerschulischen Angebot
Ihre Highschool-Lehrer haben bei der Pakistanerin Munirah Atique Khan das Feuer für Naturwissenschaften entfacht. Heute forscht sie in der „Nachwuchsgruppe für Funktionale Materialien in Lösung“ am Helmholtz-Zentrum Berlin (HZB). Nicht nur die Schule, sondern auch Familie und Freunde unterstützten ihre eigenständig getroffene Berufswahl vorbehaltlos. „Es hat zu keinem Zeitpunkt eine Rolle gespielt, dass ich eine Frau bin“, sagt sie. In Pakistan sei heute die Mehrheit der Gesellschaft überzeugt, dass Jungen und Mädchen gleichen Zugang zu den hoch angesehenen wissenschaftlichen und technischen Berufen haben sollten.
Allerdings sieht sie im Vergleich zu Deutschland noch Entwicklungspotenzial beim außerschulischen Angebot. Initiativen wie „Jugend forscht“ oder die „Lange Nacht der Wissenschaften“ könnte sie sich auch in Pakistan gut vorstellen. Eine gesellschaftliche Diskussion, die den Boden dafür bereitet, ist im Gange. Die Regierung habe Programme aufgelegt, um Studenten Auslandsaufenthalte zu ermöglichen und auf diesem Transferweg das wissenschaftliche Niveau zu heben. Auch die Perspektiven stimmen: Naturwissenschaftler und Ingenieure finden in Pakistan gut bezahlte Jobs. Dafür muss Khan aktuell hart arbeiten. „Ich muss mich sehr anstrengen, um auf dem Niveau unserer Nachwuchsgruppe mitzukommen“, räumt sie ein. Sie bekomme sehr viel Motivation und Unterstützung ihres Professors.
Verärgert ist sie über den rauen Umgang von Visastellen und Ausländerbehörden. Es sei verwunderlich, dass die deutschen Hochschulen keine Büros einrichten, die interessiertem MINT-Nachwuchs bei Einreise- und Aufenthaltsformalien helfen.
Bücher, Talent und Fleiß
Yuangeng Zhang sind MINT-Diskussionen nicht neu. In China gibt es die gleiche Debatte, sagt der Gastwissenschaftler des Max-Born-Instituts. Sein Interesse für Naturwissenschaften wurde über Bücher geweckt. In der Schule erwies er sich als talentiert, Fleiß gehört ebenso dazu. Das straffe schulische Pensum ließ kaum Raum, um seine Hobbys zu vertiefen. Dass er nach der Schule am Ball blieb und Physik studierte, war ein kollektiver Beschluss. „Meine ganze Familie hat diese Entscheidung getroffen”, sagt er. An Chinas Hochschulen seien technisch-naturwissenschaftliche Studiengänge fest in männlicher Hand, während Frauen eher Betriebswirtschaft, Jura oder Geisteswissenschaften studieren.
Beim Wechsel nach Deutschland hat Zhang in erster Linie die Sprache zu schaffen gemacht. Die Anpassung ans wissenschaftliche Niveau sei ihm leichter gefallen. Bleibt die Frage, welche Lösungen er für die MINT-Problematik vorschlägt? – „Um junge Menschen zu begeistern, sind populärwissenschaftliche TV-Formate, Bücher und Magazine wichtig, und wenn nach dem Abschluss bessere Gehälter winken, werden automatisch mehr junge Leute in diesen Bereich drängen.“
Harte Schule in Russland
„Ich möchte meinen Sohn später nicht in irgendeine Richtung drängen“, sagt Maxim Korytov. Die rasante Entwicklung der Wissensgesellschaft zwinge junge Leute frühzeitig, sich mit ihrer Perspektive und künftigen Spezialisierung zu befassen.
Korytov, der momentan als Postdoc am Leibniz-Institut für Kristallzüchtung forscht, hatte eine engagierte Mutter, die ihn an der „Physical-Technical High School“ anmeldete. Die von Nobelpreisträger Zhores Alferov gegründete Schule hat das Ziel, Talente aller Schichten zu fördern. „Schulgeld einer Privatschule hätten wir uns nicht leisten können“, sagt der Physiker.
Geschenkt war der Schulplatz auch so nicht. Ein Jahr büffelte er für die harte Aufnahmeprüfung, an der 19 von 20 Bewerbern pro Platz scheitern. Die Schule mit 100 Schülern ist in Räumen der Uni St. Petersburg angesiedelt und nutzt die Nähe im theoretischen wie im praktischen Unterricht. „Der Übergang an die Uni war fließend“, berichtet er. Nach dem Master ging er zur Promotion nach Südfrankreich.
Die Diskussion über bessere MINT-Förderung hat Korytov verwundert registriert. „Ich dachte nicht, dass das in Deutschland ein Problem ist“, sagt er. Angesichts der hoch motivierten, zielstrebigen und bestens ausgebildeten deutschen Kollegen bleiben ihm Zweifel, ob hier viel im Argen liegt. In Russland fände er die Debatte angebrachter. Nur echte Überzeugungstäter wählten dort angesichts schlechter Bezahlung, Perspektiven und Ausstattung der Lehrstühle mathematisch-naturwissenschaftliche Studiengänge. Staatliches Werben für MINT-Fächer gebe es kaum. „Bis zur festen Stelle im wissenschaftlichen Bereich ist ein langer steiniger Weg zurückzulegen. Auch in Deutschland. Das wirkt abschreckend“, so Korytov.
Breitere Ausbildung gefordert
Auch wenn sein Abschluss über 30 Jahre zurückliegt und er seit über 15 Jahren am Institut für Physik der HU forscht und lehrt, hat Ted Masselink unter anderem über die American Physical Society einen guten Draht in die US-Wissenschaftsszene. „Zwar heißt das Kürzel dort STEM statt MINT. Ansonsten: gleiche Debatte, gleiche Ziele“, sagt er.
Masselink züchtete schon als Erstklässler Einzeller und verschlang Kinderbücher über Natur und Technik. In der Schule fand er schnell Zugang zur Mathematik und Physik. Es gab exzellente Unterstützung durch seine Lehrer sowie eine hervorragende schulische Infrastruktur, bestens ausgestattete Labors, praxisnaher Unterricht mit viel Raum für Experimente. Zudem fördere das System Schüler in ihrem individuellen Lerntempo und ließ Studenten in der Anfangsphase Raum, um fachliche Vorlieben zu entwickeln. Seinerzeit war der Frauenanteil in den STEM-Fächern gering. „Seither ist in den USA viel passiert, um das zu ändern“, berichtet er. In Biologie und Medizin fruchteten die Bemühungen. Andere Domänen wie Elektrotechnik blieben wie hierzulande männlich dominiert.
Im Vergleich zu Deutschland sieht der Professor das US-Bildungssystem vorn. Sowohl in der Breite als auch in der Tiefe der Ausbildung seien die Top-200-Unis der USA deutschen Tophochschulen überlegen. „Deutschland sollte über ein vierjähriges Bachelorstudium nachdenken und die dafür nötige Labor- und Personalausstattung schaffen“, ist er überzeugt. Dann könnte es auch gelingen, die hohen Abbrecherquoten zu senken. Das Problem hierzulande sei weniger geringes Interesse von Studienanfängern als mangelndes Vorwissen der Abiturienten. Masselinks Lösungsvorschläge: bessere Aufklärung an Schulen über Studiengänge und Perspektiven, engere Betreuung an den Hochschulen und mehr Möglichkeiten für fachübergreifendes Lernen zugunsten einer breiteren Ausbildung.
Langfristiger Kulturwandel notwendig
„Auch die naturwissenschaftlichen Fakultäten Italiens beklagen Nachwuchsmangel“, berichtet Roberto Fornari, der seit 2003 das Leibniz-Institut für Kristallzüchtung leitet. Seinen eigenen Weg in die Naturwissenschaften beschreibt Fornari als eine Mischung aus Talent, Instinkt und Abgrenzung zu seiner Schwester, die als Geisteswissenschaftlerin reüssierte. „Ausschlaggebend war für mich mit 18 Jahren, ohne allzu viel Aufwand durch die Prüfungen zu kommen“, schmunzelt er. Auch war er nie ein Nerd, der sich in Schaltplänen oder Modellbaukästen verlor. „PCs waren noch nicht verbreitet und wir waren als Kinder nicht so verplant wie heutzutage“, berichtet er. Als er sich 1974 in Parma in Physik einschrieb, war Gender kein Thema. Von 35 Einsteigern waren dennoch 15 weiblich.
Auch heute tut Italien laut Fornari wenig, um Mädchen für MINT-Fächer zu begeistern. „Überraschenderweise ist die Frauenquote an naturwissenschaftlichen und technischen Fakultäten in der Regel trotzdem höher als hierzulande“, sagt er. Natürlich gebe es Unterschiede bei den Fächerpräferenzen der Geschlechter, doch er könne per se nichts Schlechtes daran finden. Er ist überzeugt, dass „nur ein langfristiger Kulturwandel die Gewichte verschieben kann“.
Als Plädoyer gegen Chancengleichheit will er seine Aussage nicht verstanden wissen. Unterrepräsentanz in Managementposten habe wenig mit der Zahl der Studienanfängerinnen in Elektrotechnik oder theoretischer Physik zu tun. Um mehr junge Leute für den MINT-Bereich zu interessieren, rät Fornari dazu, in Kindern so früh wie möglich Faszination für Forschung zu wecken – durch Besuche in Forschungseinrichtungen und Labors und durch Aufklärung über die vielen Karrieremöglichkeiten in diesem Bereich.
Von Peter Trechow für Adlershof Journal