Bewusste Wahrnehmung ist kein „Alles oder nichts“
HU-Studie liefert neue Erkenntnisse über das Bewusstsein
Wie lässt sich Bewusstsein charakterisieren, wie gestaltet sich der Zugang zur bewussten Wahrnehmung? Wissenschaftler:innen der Humboldt-Universität gingen dieser Frage in einer Studie nach. Die Ergebnisse sprechen dafür, dass visuelles Bewusstsein nicht als rein binäres Phänomen angesehen werden kann, bei dem man Dinge also entweder bewusst wahrnimmt oder nicht – ähnlich wie bei einem Lichtschalter, der nur die zwei Zustände Licht an oder aus ermöglicht. Vielmehr zeigte sich in der Studie, dass auch Zwischenstufen zwischen „gar nichts wahrnehmen“ und „alles wahrnehmen“ erkennbar waren, entsprechend der Vorstellung eines graduelles Phänomens vergleichbar einem Lichtdimmer, bei dem kontinuierliche Abstufungen der Helligkeit möglich sind. Die neuen Befunde stellen Ansichten zum Bewusstsein als rein binäres Phänomen in Frage.
Wir nehmen nicht alle Dinge in unserer Umgebung bewusst wahr. Neben sensorischen Einschränkungen (wir können beispielsweise nur bestimmte Wellenlängen des elektromagnetischen Spektrums in Form von Licht sehen), gibt es auch im von uns prinzipiell wahrnehmbaren Bereich Beschränkungen darin, wie viel und welche Information zu einem gegebenen Zeitpunkt bewusst verarbeitet werden kann, also bis „ins Bewusstsein gelangt“.
Um die bewusste Wahrnehmung eines Bildes experimentell zu manipulieren, nutzten die Forscher:innen das Paradigma des „Aufmerksamkeitsblinzelns“ (engl. „Attentional Blink“). Diese Methode der Bewusstseinsforschung basiert auf der begrenzten Verarbeitungskapazität des Gehirns: In einer schnellen Abfolge vieler kurz präsentierter Bilder (in diesem Fall: ca. 100 Millisekunden pro Bild) werden zwei Zielreize gezeigt. Wenn der zweite Zielreiz in einem kurzen zeitlichen Abstand zum ersten präsentiert wird, ist die Entdeckung oder Identifizierung oft eingeschränkt, da im Gehirn noch die Verarbeitung des ersten Reizes andauert und dadurch nicht genügend Kapazitäten zur bewussten Verarbeitung des zweiten Zielreizes zur Verfügung stehen. Mithilfe dieses Paradigmas ist es möglich, Bilder, die rein visuell gut sichtbar sind, für eine Versuchsperson in manchen Fällen subjektiv „unsichtbar“ zu machen. Nicht geklärt war jedoch bisher, ob Bilder dadurch unbedingt immer komplett unsichtbar – also gar nicht mehr wahrnehmbar - werden oder ob es auch Zwischenstufen zwischen „gar nichts gesehen“ und „komplett gesehen“ gibt.
In der Studie wurde als entscheidender zweiter Zielreiz jeweils ein Gesicht gezeigt und Versuchspersonen konnten ihren Sichtbarkeitseindruck auf einer vierstufigen Skala angeben: „Nichts gesehen“, „Leichter Eindruck“, „Starker Eindruck“ oder „Vollständig gesehen“. Es zeigte sich – entgegen der Annahme eines binären Musters – dass die Versuchspersonen meist die gesamte Antwortskala nutzten, also auch Zwischenstufen eines bewussten Eindrucks berichteten.
Während der Aufgabe wurde zudem die Gehirnaktivität der Versuchspersonen mittels Elektroenzephalographie (EEG) erfasst, welche es ermöglicht, Zeitverläufe der Aktivität im Millisekundenbereich abzubilden und Zusammenhänge der Gehirnaktivität zu den gegebenen Antworten darzustellen. Hierbei zeigte sich, dass den Antworten systematische Unterschiede in der Gehirnaktivität während der Bildbetrachtung zugrunde lagen. Bereits 150 Millisekunden nach Beginn der Bildpräsentation zeigten sich umso stärkere Gehirnreaktionen, je höher die später berichtete Sichtbarkeit ausfiel. Diese graduellen Unterschiede waren erkennbar in verschiedenen Zeitbereichen der Gehirnaktivität, die typischerweise mit bewusster Wahrnehmung in Verbindung gebracht werden.
Die neuen Befunde stellen vorherige dominierende Ansichten zum Bewusstsein im Attentional Blink als ein rein binäres Phänomen in Frage. Diese stellen auch eine wichtige Grundlage für renommierte Theorien zum Bewusstsein (die „Global Neuronal Workspace Theorie“ und die „Recurrent Processing Theorie“) dar, die die Annahme von einem reinen Alles-oder-Nichts-Zugang zum (berichtbaren) Bewusstsein beinhalten.
Die Frage, ob oder wie genau Bewusstsein sich anhand von Gehirnaktivität feststellen lässt, also die Frage nach den „neuronalen Korrelaten von Bewusstsein“, ist bislang noch nicht vollständig geklärt. Eine möglichst genaue Charakterisierung von Bewusstsein – ob es sich zum Beispiel um ein Alles-oder-Nichts-Prinzip oder um ein graduelles Phänomen handelt – ist hierbei eine wichtige Grundlage, um Bezüge zur Gehirnaktivität herzustellen. Die aktuellen Befunde liefern hierzu einen weiteren wichtigen Anhaltspunkt.
Publikation
Eiserbeck, A., Enge, A., Rabovsky, M., & Abdel Rahman, R. (in press). Graded visual consciousness during the attentional blink. Cerebral Cortex. Advance online publication. https://doi.org/10.1093/cercor/bhab289
Kontakte:
Prof. Dr. Rasha Abdel Rahman
Neurokognitive Psychologie, Institut für Psychologie
Humboldt-Universität zu Berlin
Tel.: 030 2093-9413
rasha.abdel.rahman(at)hu-berlin.de
Anna Eiserbeck
Neurokognitive Psychologie, Institut für Psychologie
Humboldt-Universität zu Berlin
anna.eiserbeck(at)hu-berlin.de