Das Wandern ist des Elches Lust
Forschende der Humboldt-Universität zu Berlin konnten zeigen: Für Elche und Wisente bietet Mitteleuropa erstaunlich viel Lebensraum
Sie werden bis zu zwei Meter groß, haben eine Schwäche für Baumtriebe, Knospen und Wasserpflanzen und wandern für ihr Leben gern: Auf Elche zu treffen, kommt aktuell wohl hauptsächlich Skandinavienreisenden in den Sinn. Tatsächlich aber sind die großen Pflanzenfresser inzwischen auch in Deutschland wieder heimisch, ebenso wie der europäische Bison, der Wisent. Welche mitteleuropäischen Lebensräume die wieder einwandernden Spezies derzeit nutzen, welche weiteren sich für sie eignen würden und ob die Tiere auch tatsächlich dorthin gelangen können, haben Forschende der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) untersucht.
Wisente und Elche sind die größten Landsäugetiere Europas und leben am liebsten in sogenannten Mosaiklandschaften – Landstrichen, in denen sich Wälder, Feuchtgebiete und offene Landschaften abwechseln. Bis hinein ins Mittelalter waren die zottig-braunen Pflanzenfresser von Skandinavien über Mitteldeutschland bis hinunter zu den Pyrenäen verbreitet. „Durch die Abholzung von Wäldern und Bejagung wurden sie jedoch aus Deutschland verdrängt“, sagt der Biogeograph Hendrik Bluhm, der an der HU promoviert. Mehrere hundert Jahre später wendet sich nun das Blatt: Elche auf Wanderschaft gelangen von Westpolen aus immer häufiger nach Nordostdeutschland. Und auch die Wisente kehren zurück. Dass sie sich ihren angestammten Lebensraum zurückerobern, ist eine echte Erfolgsgeschichte – waren sie vor gut hundert Jahren doch ausgestorben. „Um 1927 wurde das letzte Individuum in freier Wildbahn erlegt. In Zoos und Tierparks gab es lediglich noch 54 Tiere“, sagt Hendrik Bluhm. Durch ein Rettungszuchtprogramm gelang es, die Rinderart zu erhalten. Ab den 1950er Jahren konnten erste Herden in Polen ausgewildert werden.
„Mittlerweile gibt es über 7.000 freilebende Wisente in Europa. Neben der Kernpopulation in Polen auch im Baltikum, in Belarus, Russland, Rumänien, der Ukraine und im deutschen Rothaargebirge.“ Aufgrund der geringen genetischen Vielfalt – die Bestände gehen auf die 54 Tiere zurück, die Ende der 1920er Jahre noch am Leben waren – ist die Situation der Wisente jedoch weiterhin angespannt. „Genetische Verarmung erhöht die Anfälligkeit für Krankheiten und die Herden sind überwiegend isoliert voneinander und nicht sehr groß. Ein unvorhergesehenes Ereignis wie ein Brand, ein Krankheitsausbruch oder ein harter Winter können die Population schnell dezimieren.“ Größere Herden und viele Verbreitungsgebiete sind also wichtig, um das Überleben der Spezies zu sichern.
Doch nicht nur für die Wisente selbst ist es wünschenswert, sich mehr Lebensräume zu erschließen: Ebenso wie Elche erfüllen sie in Ökosystemen wichtige Funktionen. „Durch Zertrampeln entstehen Kuhlen im Boden, die von bedrohten Käferarten genutzt werden. Durch ihren großen Bewegungsradius verbreiten Elch und Wisent zudem Pflanzensamen über weite Distanzen und sorgen durch ihr Fraßverhalten dafür, dass neue Mikrohabitate entstehen, was anderen Tier- und Pflanzenarten zugutekommt.“ Welche Lebensräume die Spezies derzeit nutzen und welche noch unbesiedelten Landstriche sie sich perspektivisch erschließen könnten, haben Bluhm und seine Mitstreitenden vom Institut für Geographie kürzlich in Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland, Polen, Tschechien, Österreich und Schweden untersucht. Einen Großteil der Daten lieferten rund 80 Elche und 130 Wisente, die die Forschenden mit GPS-Halsbändern ausstatteten. „So konnten wir sehen: Wie ist die Raumnutzung der Tiere und wie sind die Umweltbedingungen in diesen Lebensräumen?“ Die hier gewonnenen Informationen brachten die Forschenden unter anderem mit räumlichen Umweltdaten auf Grundlage von Satellitenbildern zusammen und kamen so zu Vorhersagen, welche Gebiete in Mitteleuropa als neue Heimaten in Frage kämen.
„Zudem haben wir uns angesehen, wie es in den ökologisch geeigneten Lebensräumen um die Straßen- und Bevölkerungsdichte bestellt ist. Es ging uns darum, das Stör- und Konfliktpotenzial bei einer etwaigen Besiedlung abzuschätzen.“ Darüber hinaus untersuchten die Forschenden, welche Flächen Elch und Wisent durch Wanderungsbewegungen auch tatsächlich erreichen können. „Wir haben geschaut, wo die Landschaft durchlässig ist und wo Barrieren Wanderungen begrenzen. Ziel war es, herauszufinden, wo wir mittelfristig mit einer Rückkehr rechnen können, um etwaige Mensch-Wildtier-Konflikte vorherzusehen und darüber zum Beispiel mit Land- und Forstwirten ins Gespräch zu kommen.“
Wie gut die Chancen für Elch und Wisent stehen, hat die Forschenden überrascht. „Wir haben in verschiedensten mitteleuropäischen Regionen Gebiete gefunden, die geeigneten Lebensraum bieten könnten – darunter auch viele in Deutschland.“ Die Forschung zeigt jedoch auch: Von Ost nach West steigt das Konfliktpotenzial graduell an, denn im Westen des Landes leben viele Menschen, ist das Verkehrsnetz besonders dicht. „Die größten Potenziale für eine störungsarme Besiedlung gibt es in Nordostdeutschland – zum Beispiel im südlichen Brandenburg, in der Schorfheide und im Bereich der Mecklenburgischen Seenplatte.“ Welche Gebiete die Tiere am Ende tatsächlich besiedeln werden, hängt dabei von der Anzahl der Wanderkorridore ab. Und auch hier machten die Forschenden einen Ost-West-Gradienten aus: „Die Anzahl der Barrieren steigt in Richtung Westen immer weiter an, vor allem aufgrund des dichter werdenden Verkehrsnetzes.“
Eine zunehmend fragmentierte Landschaft macht den Tieren dabei nicht nur in Deutschland das Leben schwer. „Auch in Osteuropa werden verstärkt Autobahnen ausgebaut und Barrieren errichtet. Der Zaun zwischen Belarus und Polen etwa, also an der EU-Außengrenze, schränkt Wanderungsbewegungen ein.“ Auch der im Sommer 2021 errichtete Zaun entlang der deutsch-polnischen Grenze könnte das Erschließen neuer Lebensräume verhindern. Eindämmen soll er die Ausbreitung der afrikanischen Schweinepest, führt dabei unter anderem mitten durch ein Naturschutzgebiet. Wie sich der Zaun konkret auf die Ökosysteme auswirkt, ist bislang nicht erforscht. Allgemein jedoch gilt: „Wanderung spielt für viele Arten eine große Rolle. Unter anderem ist nachgewiesen, dass Rothirschpopulationen mehr und mehr genetisch verarmen, weil durch die Landschaftszerschneidung nicht mehr so viel Austausch stattfindet. Solche Barrieren sind also nicht nur für Elch und Wisent problematisch, sondern für viele andere Arten auch.“ Helfen könnte das gezielte Anlegen von Grünbrücken und Durchlässen, weiß Hendrik Bluhm. „Zudem ist es wichtig, vor der Errichtung von Barrieren die ökologischen Auswirkungen zu prüfen.“
Nora Lessing für Adlershof Journal