Die Reise ins Ich
Nastasja Keller filmt, was in ihrem Kopf vorgeht
Was geht in diesem Kopf nur vor? Brachinus explodens und Professor Lysenbeck, das unsichtbare Lattenheim und Helge Schneider, Spielfilmbombing und Busüberfälle in Brasilien. Der Kopf gehört Nastasja Keller. Die leidet an einer „antrainierten Verehrungsnummer“, wie sie selber sagt, und hat Angst in einem Ikea-Einrichtungshaus zu sterben. Früher dachte sie, Künstler sein bedeutet Maler zu sein. Heute dreht sie in ihrem Adlershofer Atelier „seltsame Filme“ darüber, was in ihrem Kopf nur vorgeht.
Eine Frage, die auch Nastasja Keller wohl nicht abschließend beantworten kann. Vielleicht noch nicht. Sie arbeitet jedenfalls unermüdlich daran. Erst am Wochenende hob sie mit zwei Jungen Schützengräben in der Nähe von Zehdenick aus und machte Filmaufnahmen dabei. Die Resonanz der Leute vor Ort, sagt sie, war lustig, das Ergebnis „krass, alles sehr russisch, sah aus, wie der Film ‚Fünf Patronenhülsen’ mit Armin Müller-Stahl.“ Oft ist sie selbst erstaunt, was ihre Arbeit zutage fördert. Bilder, die gefärbt sind, persönlich, politisch, moralisch. Mit ihren Filmen versucht Keller, Erinnerungsbilder und das Gefühl eines Moments einzufangen, und wehrt sich gegen eine alles überlagernde, vorgefertigte Bilderwelt.
Auch Brachinus explodens, der Bombardierkäfer, spielt im Film „Professor Lysenbeck“ eine Hauptrolle. Es geht um die Frage, ob und wie Herz und Verstand in Kontakt stehen. Ein anderer Film behandelt das unsichtbare Lattenheim, einen imaginären Ort aus der Geschichte „Pubertät“ von Helge Schneider. Als der Fernsehsender ZDFkultur im Januar 2012 in seinem Themenabend „Kopf der Woche“ Helge Schneider vorstellt, macht sich Nastassja Keller filmisch ein paar Gedanken dazu. Sie bastelt das unsichtbare Lattenheim und fantasiert von einem Film mit einer Tanzperformance fünf nackter Männer und 360-Grad-Kamerafahrt. Hier formuliert sie auch die Todesangst im Einrichtungshaus und die antrainierte Verehrungsnummer. Die Dinge sind alle nicht so fassbar und sagbar, als man uns meistens glauben machen möchte, sagt der Dichter Rainer Maria Rilke.
Aufgewachsen ist Keller in einem „latent“ künstlerischen Berliner Haushalt, die Eltern arbeiten als Masken- und Bühnenbildner. Vereinfacht hat es die Künstlerwerdung nicht unbedingt, erinnert sie sich. Ob sie schon immer Künstlerin werden wollte? Die Frage mag sie nicht, wie alles, was irgendwie ein Klischee über Kunst und Künstler bedienen könnte. Gebastelt habe sie schon immer gern oder sich Geschichten ausgedacht.
Beim Studium an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden hat sie in alle Richtungen studiert, unter anderem als Meisterschülerin bei Martin Honert, Künstler und Professor in der Fachklasse für Dreidimensionales Arbeiten. Sie hat viel probiert und noch wichtiger, viele interessante Leute getroffen: Lutz Dambeck, zum Beispiel, einen „schrägen Dokumentarfilmer“ mit großem Einfluss. Keller malt verstörende Comics mit Titeln wie „Spielfilmbombing“ oder „Busüberfall in Brasilien“, filmt, animiert, installiert.
Realität und Fantasie
Doch die Fragen nach ihren Themen oder ihrem Lieblingsmedium bergen ebenfalls Klischeepotenzial. Deswegen gibt es Antworten, bei denen man nicht weiß, ob sie wirklich real sind. Doch was ist real? Was ist Fantasie? Und wie wechselwirken sie miteinander? Damit ist man wieder im Kopf von Nastasja Keller: Was passiert im Gehirn? Mit ihren Projekten erforscht sie diese Fragen, will diese Wechselwirkungen sichtbar machen. Dafür baut Keller Räume in ihrem Atelier: Ein Schiffsbug ragt aus der Wand, in der Mitte ist ein Zimmer aus Pappe gebaut, ein schwarzer Turm steht in der Ecke und auf der anderen Seite liegt der Schützengrabensand an improvisierten Befestigungen. Es bleibt kaum Platz, sich zu bewegen.
Ihre Arbeit vergleicht sie mit der eines Mechanikers. Für jeden Schaden am Auto gibt es ein Werkzeug. So sei das mit ihren Projekten auch. Bei dem Bild bleibt sie, als sie ihre Arbeitsweise beschreibt: eher „Arbeitsschlampe“ als Feinmechaniker. Das bezieht sich offensichtlich nicht auf die Präzision ihrer Aussagen, sondern eher auf ihre Ungeduld in der Fertigung. Sie stochert gern, sagt Keller.
Nastasja Keller kreiert vielfältige Welten aus ihrer Sichtweise, nimmt vorhandene Dinge und setzt sie neu zusammen, benutzt sich, wenn sie zeigt, was sie sieht und wie sie es sieht. Demnächst entsteht hier ein DDR-Klassenzimmer. Kellers Klassenzimmer. Der für sie „fantasieloseste Raum“, den sie kannte und den sie filmen will, aus dem Blickwinkel ihrer Schulbank. Das Gebäude, in dem sich ihr Atelier befindet, ist dafür perfekt. Die alte, unmodernisierte Kaserne erinnert sie stark an ihre Schule. Und auch dieser Film wird sicher ein „seltsamer“ sein.
von Rico Bigelmann