Provinzblick
Essay von Paul Bokowski, Schriftsteller und Satiriker aus Berlin
Es ist erst kurz vor zehn. Auch wenn die Bauarbeiter aus dem Oderbruch schon »Mahlzeit« sagen. Es hat nur zwei Dekaden Zeit gebraucht, bis sie mich grüßen. Dabei kommen jedes Frühjahr neue. Im Oderbruch wird wohl weitergetragen, wer von den Anwohnenden zu grüßen ist. Seit diesem Jahr gehöre ich dazu. Mit etwas Glück, wenn ich mir nichts darauf einbilde, bleibt es auch dabei.
Die Nachbarschaft sieht noch verschlafen aus. An unserem Straßenende geht nicht viel. Nur vor dem Wettbüro fegt einer Zigarettenstummel in den Rinnstein. Berlin, das Funktionale, fängt erst an der nächsten Kreuzung an. Hier wohnen Kleinunternehmer und Klienten. Beides Euphemismen. Aber mit jeder Semesterschmelze steigt der Pegel und langsam kommt die Waterkant aus Coworking und Kernsaniert zu uns hinaufgeschwappt.
Die letzte Welle spülte Dennis in den Kiez. Er strahlt mir ins Gesicht. »Dieser Kiez!«, sagt er. »Der. Macht. Mich. Fertig.« Das sagt Dennis gern. Er sagt es nicht, wie ich es sagen würde. Dass wir aus derselben Kreisstadt zugezogen sind, mit 20 Jahren Abstand zueinander, in die Diaspora, dass wir in der gleichen Straße wohnen, im gleichen Haus, im gleichen Stock, ganz zufällig, für ihn macht mich das vertrauenswürdig. Noch bin ich unentschlossen, ob er irrt.
Wir sitzen in seiner Loggia und schauen auf die Nachbarschaft. Seit einer Stunde laufe ein nackter Mann die Straße ab und brülle in einer Tour: »What time is it? WHAT TIME IS IT?« Das müsse ich gesehen haben. Vielleicht brüllt er, weil ihm niemand antwortet. Es ist Brückentag. Alle sind sie weggefahren. Unter den Sneakers liegt der Strand. Nur an der Ecke sitzen zwei. Ein junges Paar. Ich tippe auf Franzosen. »Portugiesen!«, sagt Dennis. »Es klingt wie Ungarisch! Und wenn es klingt wie Ungarisch, dann sind es Portugiesen.« Acht Wochen in Berlin und schon ein Master in Tourismuswissenschaften.
Das Paar sitzt auf einem Sperrmüllsofa. Das Sofa steht schon länger hier, als Dennis wohnt. Jedem der sporadischen Passanten ist Ekel anzusehen. Und der Gedanke: »Wenn die wüssten.« Er hat seinen Kopf auf ihre Beine gelegt und gießt sich ein Bier in den Mund. Sie streichelt seine Stirn und liest ihm vor. Tragend und mit strenger Stimme. Wie die Poesie eines Soldatenkönigs. Die Sonne überkippt das Paar mit Licht. Es hat was von Theater. Dann erkennen wir den Text. Sie liest aus einem Bücherkistenbuch von Ottolenghi. »Wahnsinn!«, flüstert Dennis. »Dieser Kiez! Der. Macht. Mich. Fertig.« Er hat das Kinn auf die Balkonbrüstung gelegt. Ich denke an die alte Kulke, die 40 Jahre lang an dieser Brüstung klebte, um sich zu verrauchen. »Wenn er wüsste.«
»Da kommt er!«, ruft Dennis. Er löst das Kinn vom Blech der Brüstung. Er ist schon zu hören, dann zu sehen. Kleider machen Leute. Keine Kleider auch. »Da!«, ruft Dennis. Er habe mitgezählt. Zum fünften Mal laufe der nackte Mann die Straße lang: »What time is it? WHAT TIME IS IT?« Dennis steht auf. Steht wie die Kulke an der Brüstung. Gafft hinunter. Ich nenne das Provinzblick. Fast hat der Nackte uns erreicht. Da kommt ein Streifenwagen um die Ecke, rollt im Schritttempo vorbei, lässt das Fenster runter und ohne rauszuschauen ruft eine Polizistin: »IT‘S VIERZEHN UHR!« Der nackte Mann steht stramm, salutiert, macht auf dem Absatz kehrt und geht geschäftig fort. Dennis lacht. »Dieser Kiez!«, sagt er. »Der. Macht. Mich. Fertig.« Er sagt es nicht, wie ich es sagen würde. Mich macht er anders fertig. »Mahlzeit«, ruft ein Bauarbeiter aus dem Oderbruch. »Mahlzeit«, ruft Dennis zurück. Es ist nicht 14:00 Uhr.
Paul Bokowski lebt und arbeitet in Berlin. Der Autor gehört seit vielen Jahren zur Speerspitze der deutschen Lesebühnenszene. Seine Humorbücher erreichten zahlreiche Auflagen.