Faktor X: Das Unvermutete
Von Lucia Jay von Seldeneck, freie Journalistin
Hier ist fast schon Stadtgrenze. Einfach so kommt niemand in Adlershof vorbei. Man muss sich diesen Ort vornehmen. Und dann steht man in der Stadt der Wissenschaft mitten auf einem weiten Platz – und ist erst einmal überfordert. Auf einen Blick ist sie nicht zu fassen. Aber das war zu erwarten. Schließlich ist hier ein Ort der Zukunft und uns Außenseitern um viele Schritte voraus. Was hier geforscht und entwickelt wird, verändert und bestimmt das Leben der Menschen. Beflügelt von diesem Pioniergeistgedanken lasse ich mich treiben durch die Straßen dieser ganz eigenen, kleinen, angelegten Stadt.
Die beste Vorbereitung, um einen Ort zu erkunden ist: Nichts über ihn zu wissen. Nur so lassen sich Geschichte und Bedeutung über den Ort selbst erschließen. Das muss man üben. Schließlich sind wir es gewohnt, unbekanntes Terrain großflächig abzustecken: Vor der eigentlichen Ortsbegehung eignen wir uns die wichtigsten Informationen aus Reiseführer oder Netz an und verinnerlichen die unterschiedlichen Meinungen von Experten. So fühlen wir uns sicherer.
Franz Hessel ist ein Vorbild in der Ortserkundung. „Wir wollen es uns zumuten!“, rüttelte er seine Leser in den 1920er Jahren auf – und machte vor, was er damit meinte: Der Journalist gab, wie er es selbst nannte, dem Unvermuteten eine Chance, indem er einfach drauflos spazierte. Hessel, der Flaneur, begegnete den Ecken und Gassen, den Fabriken und Wohnungen Berlins, unvoreingenommen und ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen. Eine Zumutung war dies für all diejenigen, die fanden, man gehe nicht spazieren – dazu habe man keine Zeit. Aber dass es sich lohnt, einmal aus der hastenden Masse herauszutreten, innezuhalten und zu beobachten, ohne dabei ein Ziel zu verfolgen – das wird sofort klar, wenn man sich einmal darauf einlässt.
Und Adlershof ist ein guter Ort dafür. Zuerst einmal steht man vor den zwei weißen Riesenköpfen. Langsam und unaufhörlich drehen sich die Gesichter der Skulptur um die eigene Achse, während sich die weißen Scheiben, aus denen sie gemacht sind, verschieben und die glatten und ebenmäßigen Gesichter von einem Moment zum nächsten erst unkenntlich, dann verkehrt und am Schluss vollkommen abstrakt werden – um sich dann irgendwann wieder in die gewohnte Form zu schieben. Die beiden Antlitze halten einen gefangen in ihrer Spannung, in ihrer ständigen Veränderung – und man versteht sofort, dass sie zum Sinnbild für die Stadt der Wissenschaft, Wirtschaft und Medien hier in Adlershof geworden sind.
Wer dann weitergeht und den gerade angelegten Straßen folgt, der erkennt zu beiden Seiten ein zusammengewachsenes Ensemble: Das Alte stützt das Neue. Ein symbolträchtiges Bild: Wie in einem großen Labor, in dem ohne Unterlass untersucht, entwickelt, verworfen und wieder angefangen wird, sind die Gebäude umeinander herum gewachsen, stützen sich und lassen sich doch den Raum, den sie brauchen.
Im Mittelpunkt thronen imposant, betonschwer und ungerührt von allem Treiben um sie herum der Trudelturm und der „Große Windkanal“. Wie ein großes graues Urzeitei steht der Trudelturm aufrecht auf der Wiese. Er galt in den 1930er-Jahren in der Luftfahrtforschung weltweit als Innovation: Zum ersten Mal konnte der Trudelzustand simuliert werden. Ob man auch heute noch in seinem Innern trudeln kann? Nebenan reihen sich moderne Gebäude, hinter den großen Fenstern: Bücherregale, Schreibtische, Menschen in Kitteln. Auf der Wiese feuern Studenten einen Grill an und bauen Biertische im Schatten des „Großen Windkanals“ auf.
Das Unvoreingenommene lässt sich leicht und beinahe überall üben – aber, und das wird mir beim Laufen immer mehr bewusst: Hier in Adlershof ist es sozusagen zu Hause. Ich gehe ohne Ziel und habe keine Vorstellung von einem möglichen Ergebnis – und in den Laboren, an den Mikroskopen und Schreibtischen rund um mich herum geht es auch nur unter dieser Voraussetzung vorwärts. Jede Forschung muss sich auf den Faktor X, das Unvermutete, einlassen, ja sogar damit arbeiten – wenn am Ende eine Entdeckung stehen soll.
Lucia Jay von Seldeneck arbeitet als freie Journalistin und hat ein Buch über „111 Orte in Berlin, die man gesehen haben muss“ geschrieben. Derzeit leitet sie die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit im Theater Heimathafen Neukölln.