Gemeinsam, geschichtsbewusst, offen und zukunftsorientiert
Im Gespräch mit Julia von Blumenthal, seit 1. Oktober 2022 Präsidentin der Humboldt-Universität zu Berlin (HU)
Adlershof Journal: Welche Schwerpunkte haben Sie sich für Ihre Amtszeit gesetzt?
Julia von Blumenthal: Die Vielzahl aktueller Krisen und Entwicklungen stellt uns als Gesellschaft derzeit vor enorme Herausforderungen – denken wir allein an die Pandemie, den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und den Klimawandel. Als Orte von Forschung, Lehre und wissenschaftlichem Diskurs sind wir Universitäten in diesen Zeiten besonders gefordert. Ich bin überzeugt, dass wir an der Humboldt-Universität mit unserem starken Forschungsprofil, unserer lebendigen Hochschulgemeinschaft und wechselhaften Geschichte die Chance haben, neue Formen einer Universität der Zukunft zu erproben, die gewappnet ist für die Herausforderungen von heute und morgen. Wir sind eine Universität, die offen eintritt für Wissenschaftsfreiheit, die getragen wird von den unterschiedlichen Bildungsbiographien ihrer Studierenden, Diversität fördert, Nachhaltigkeit lebt und mit innovativen Formaten in den Austausch mit der Gesellschaft tritt. Hierfür werde ich die Aktivitäten unter dem Dach von „Open Humboldt“ weiter voranbringen und unsere Kooperationen ausbauen.
Unsere Zusammenarbeit mit außeruniversitären Forschungseinrichtungen in Berlin und Brandenburg möchte ich vertiefen, unsere regionalen und internationalen Netzwerke stärken und gemeinsam mit unseren Partnern die Berlin University Alliance zum Erfolg führen. Wir wollen das Ziel einer klimaneutralen Universität bis 2030 erreichen. Das verlangt nach Änderungen in unseren Arbeitsgewohnheiten und nach einer klugen Campusentwicklung. Und unseren Studierenden möchten wir moderne Studienangebote und Lehrkonzepte anbieten, in denen es mehr um Kompetenz- statt Berufsorientierung geht. Auf diesem Weg verbinden wir Forschung, Lehre und Handeln neu und entwickeln die Humboldt-Universität in dem Bewusstsein für ihre traditionsreiche Geschichte zu einer Universität für die Zukunft.
Gemeinsam, geschichtsbewusst, offen und zukunftsorientiert, unter diese vier Begriffe habe ich meine Präsidentschaft gestellt.
Welche Weichen sollte die Politik für die Sicherung einer exzellenten Forschung stellen?
Über 250.000 Menschen arbeiten oder studieren an Berliner Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Berlin ist eine starke Wissenschaftsmetropole und attraktiv für Forschende aus der ganzen Welt. Gemeinsam mit der Politik arbeiten wir daran, dass dies auch in Zukunft so bleibt. Basis für exzellente Forschung an Universitäten ist eine ausreichende und stabile Finanzierung. Auf Bundesebene sind mit den Beschlüssen zur Finanzierung der Exzellenzstrategie sowie zur Dynamisierung des Zukunftspakts Studium und Lehre wesentliche Weichenstellungen vorgenommen worden. Für die Grundfinanzierung steht insbesondere das Land Berlin in der Verantwortung, diese auch in Zeiten steigender Energiepreise und Inflation sicherzustellen. Gerade die Forschung in den Naturwissenschaften ist energieintensiv und so sind wir für die Unterstützung sowohl des Bundes als auch des Landes in der aktuellen Energiekrise sehr dankbar. Ich hoffe sehr, dass die hohe Bedeutung der Wissenschaft für den Standort Berlin sich auch in den künftigen Hochschulverträgen wiederspiegeln wird, die wir gerade verhandeln.
Darüber hinaus benötigen wir stabile rechtliche Rahmenbedingungen. Das betrifft insbesondere auch unsere Zusammenarbeit mit den außeruniversitären Partner:innen. Der Bund muss die Frage der Umsatzsteuerpflicht in der verlängerten Übergangsperiode nun endlich zugunsten der Wissenschaft lösen.
Die Novelle des Berliner Hochschulgesetzes stellt für die Entwicklung moderner Personalstrukturen, die verlässliche Karrierewege mit der für innovative Forschung notwendigen Flexibilität verbindet, nach wie vor eine Herausforderung dar. Wir sind darauf angewiesen, dass bundes- und landesgesetzliche Regelungen uns den notwendigen Handlungsspielraum lassen, um auch in der Drittmittelforschung und der Gewinnung exzellenter internationaler Wissenschaftler:innen erfolgreich zu bleiben.
Viele Spin-offs aus der HU kommen aus dem Bereich der Naturwissenschaften. Wie hoch ist das Thema Existenzgründung an der HU angebunden?
Wissens- und Technologietransfer ist eine unserer zentralen Stärken an der Humboldt-Universität. Mit der Unterstützung von Ausgründungen fördern wir sowohl neue Arbeitsplätze in Berlin, als auch Karrierepfade für unsere Studierenden und Forschenden. Wir haben so die Möglichkeit, Ideen und Innovationen aus der Universität in die Gesellschaft und in die Wirtschaft zu tragen und an aktuellen Herausforderungen, beispielsweise im Bereich Nachhaltigkeit und Umweltschutz, mitzuarbeiten.
Im bundesweiten Ranking „Existenzgründungen aus den Wissenschaften“ sind die Institute am Standort Adlershof zusammengefasst unter den TOP 10 aller Bundesländer. Zu diesem Erfolg trägt zum Beispiel unser Startup Inkubator oder auch das in diesem Jahr eröffnete Advanced Materials LAB bei – ein Think Tank, in dem Startups gemeinsam mit Unternehmen themenspezifisch gefördert werden. Mit dem „Marga Faulstich Programm“ und dem „Female Founders Day“ möchten wir darüber hinaus gezielt Studentinnen und Forscherinnen für diesen Weg motivieren.
Sie betonen die Rolle der HU mit ihrer exzellenten wissenschaftlichen Forschung zur Lösung der großen gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit. Welches Potenzial sehen Sie hier bei den Instituten der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät in Adlershof?
Wir wissen, dass die Menschheit innerhalb kürzester Zeit einen Wandel vollziehen muss, um das Ausmaß der globalen Erderwärmung abzubremsen. Gerade in Adlershof und den dort beheimateten Instituten sehe ich sehr großes Potenzial sowohl in der disziplinären Forschung als auch in der Beteiligung an interdisziplinärer Forschung. Das gilt für das gerade gegründete Center for the Science of Materials Berlin (CSMB), in dem Forschende aus Physik und Chemie tätig sind. Das CSMB wird mit seiner herausragenden innovativen Forschung für Energieversorgung, Informations- und Kommunikationstechnologien wichtige Beiträge leisten, gerade unter dem Blickwinkel nachhaltiger Ressourcennutzung. Nachhaltigkeitsforschung ist ein wichtiges Thema des Instituts für Geographie, unter anderem die Aspekte der Biodiversität, des Landnutzungs- und Klimawandels. Für die Erforschung der individuellen und gesellschaftlichen Anpassungen steht das Institut für Psychologie der Lebenswissenschaftlichen Fakultät, das ebenfalls in Adlershof beheimatet ist. Erwähnen möchte ich in diesem Zusammenhang auch die laufenden Exzellenzcluster mit Beteiligung aus Adlershof: Das Projekt Matters of Activity bündelt beispielsweise die Expertise im nachhaltigen Produktdesign; UniSysCat bietet direkte Anknüpfungspunkte für die Entwicklung neuer Materialien und im Projekt MATH+ werden mathematische Grundlagen für die Nutzung immer größerer Datenmengen geschaffen, die unerlässlich für moderne Forschungsansätze sind.
Neu in Adlershof ist seit letztem Oktober das Center for the Science of Materials Berlin. Welche weiteren inhaltlichen Entwicklungen sind für den HU-Campus Adlershof geplant?
In der Forschung setzen wir mit der Gründung des Center for the Science of Materials Berlin (CSMB) ein deutliches Zeichen für den konsequenten Ausbau der materialwissenschaftlichen Forschung am Campus Adlershof. Um dafür internationale Sichtbarkeit zu schaffen, soll das Center die themenrelevante Expertise in den einzelnen Fachinstituten innerhalb der HU bündeln und mit unseren universitären und außeruniversitären Partnereinrichtungen verknüpfen. Im Fokus steht dabei die Entwicklung und Erforschung von Materialien für die Energiewandlung und -speicherung, für eine energieeffiziente Information und Kommunikation sowie der Quantentechnologien.
Zur Forschung gehört auch die notwendige Infrastruktur: Um auf die steigenden Bedürfnisse an die Computerleistung der Forschenden zu reagieren, plant die HU zudem den Ausbau von High-Performance-Computing am Standort Adlershof. Wir wollen damit ein Angebot schaffen, das effizienter ist als eine Vielzahl kleinerer Cluster und offen für die Nutzung gemeinsam mit unseren universitären und außeruniversitären Partner:innen.
Im Bereich des Studiums sehe ich besonders unseren bundesweit einmaligen Bachelorstudiengang "Informatik-Mathematik-Physik" als zukunftsweisend an. Die räumliche Nähe der drei Disziplinen auf dem Campus bietet für diesen Studiengang ideale Bedingungen. Dass wir mit diesem Angebot genau richtig liegen, beweist uns die große Zahl von Bewerbungen hoch motivierter Studierender in diesem zulassungsbeschränkten Studiengang. Die Absolvent:innen sind gerade auch für die Forschung am Standort Adlershof erstklassig ausgebildet.
Ein besonderes Anliegen ist mir auch die Zusammenarbeit mit dem Land Brandenburg. Wir wollen unser regionales Kooperationsumfeld entlang der neu entstehenden Innovationsachse Berlin-Lausitz erweitern und sind hierzu derzeit in einem vielversprechenden Austausch mit der BTU Cottbus-Senftenberg, um potentielle gemeinsame Forschungsfelder zu erschließen.
Bauliche Veränderungen auf dem Adlershofer HU-Campus: Diesen Sommer wurde der Grundstein für den Neubau einer 3-Felder-Sporthalle für Lehramtsstudierende im Fach Sport gelegt. In der Planung Ihrer Vorgängerin waren außerdem ein Erweiterungsbau des Berliner Naturkundemuseums und der Bau eines zentralen Unigebäudes mit großem Hörsaal, eines sogenannten Science Hub, in Adlershof. Wo stehen die Projekte heute?
Adlershof auch baulich weiterzuentwickeln, bleibt ganz oben auf der Agenda. Ich freue mich sehr, dass die Sporthalle nun endlich in die Realisierung geht. Das ist ein wichtiger Meilenstein für unsere Studierenden. Mit dem Science Hub haben wir ein echtes Zukunftsprojekt in unserer Hochschulstandortentwicklungsplanung. Der Hub soll als neuer Mittelpunkt neben dem Erwin Schrödinger-Zentrum den Campus Adlershof mit neuem Leben füllen. Aktuell werden die für die bauliche Investition notwendigen Flächenbedarfe, Funktionen und Anforderungen ermittelt. Mit dem Museum für Naturkunde verbinden uns große Projekte im Rahmen des Zukunftsplans des Museums. Die Planungen des Museums für Adlershof neben unserem Archiv- und Magazingebäude machen Fortschritte und wir arbeiten gemeinsam an einem Wissenschaftscampus der Zukunft am Hauptstandort des Museums.
Die Zahl der Studienanfänger/-innen sinkt seit mehreren Jahren. Das betrifft nicht nur die HU, sondern auch die anderen Berliner Universitäten. Wie wollen Sie dem begegnen?
Die Zahl der Studienanfänger:innen an der HU ist aktuell noch stabil, aber wir haben sinkende Bewerbungen zu verzeichnen. Während im Wintersemester 2021/2022 noch 35.129 Anträge auf einen Studienplatz eingegangen sind, waren es im Wintersemester 2022/2023 nur 29.706. Das bedeutet für uns, dass wir aktiver in der Werbung für unsere Studiengänge und der Akquise von Studieninteressierten werden müssen. Dabei können wir an bewährte Formate anknüpfen: Im Bereich der Lehrkräftebildung wird beispielsweise über Schülergesellschaften der direkte Kontakt zu Schüler:innen gesucht. So lassen sich Anreize oder Vorbehalte gegen ein Studium besprechen und diskutieren. Das hilft uns auch, die Schüler:innen besser zu verstehen und unser Angebot zu verbessern und attraktiver zu gestalten. Ein andere Beispiel ist das UniLab Schüler:innenlabor. Als außerschulischer Lernort schlägt es eine Brücke zwischen Schule und naturwissenschaftlicher Forschung. Lehrende der HU führen hier regelmäßig Experimente mit Schulklassen durch, um Vorbehalte gerade gegenüber dem MINT-Bereich abzubauen und Neugier zu wecken.
Wofür interessieren Sie sich persönlich, jenseits der Arbeit?
Als Ausgleich für die vielen Sitzungen und Videokonferenzen schätze ich die Bewegung in frischer Luft und in der Natur. Wenn wenig Zeit ist, muss eine Joggingrunde in einem Berliner Park ausreichen. Wenn Zeit für eine längere Wanderung ist, genieße ich die wunderschöne Landschaft in Brandenburg sehr. Aber auch kulturelle Anregungen sind mir sehr wichtig: Die Berliner Kultur bietet eine unglaubliche Vielfalt an Theatern, Konzerten, Opern und besonderen Veranstaltungen wie zuletzt die Tanzperformance Vinyago im Humboldt-Forum. Im Urlaub muss immer ein gutes Buch dabei sein. Aktuell lese ich viel ukrainische Literatur.