Gründungsabenteuer mit fast 60: Chemieprofessor schafft Transparenz
Erhard Kemnitz hat sein Forscherleben dem chemischen Element Fluor gewidmet. Vor einigen Jahren hatte er eine Idee, die technische Gläser, Keramik und Medizintechnik verändern dürfte. Erst nach langem Ringen entschloss sich der Chemiker zur Gründung der Nanofluor GmbH.
Unscheinbar steht die Kunststoffflasche auf Erhard Kemnitz‘ Schreibtisch. Was es mit der farblosen, alkoholisch riechenden Flüssigkeit darin auf sich hat, bleibt dem menschlichen Auge verborgen: In der Flasche schweben Magnesiumfluoridpartikel von nur drei bis vier Nanometern Größe, die nicht klumpen.
Das Herstellungsverfahren für seine Nanofluoridsole trug der Professor an der Humboldt-Universität als Idee mit sich herum, bis er vor sieben Jahren einen indischen Gastwissenschaftler mit ersten Tests betraute. „Wir begannen mit metallorganischem Perkursor in organischem Lösungsmittel und gaben Fluorwasserstoff zu”, erinnert er sich. Nichts geschah. Doch dann begann die Flüssigkeit zu gelieren. Eine Sol-Gel-Synthese war in Gang gekommen. Was in der Oxidchemie etabliert war, war für Fluoride gänzlich neu. Kemnitz ließ das Verfahren sofort patentieren, ohne dessen volles Potenzial zu erahnen.
Entspiegelte Brillen, Linsen, Architekturgläser oder Solarzellen
Heute rufen fast wöchentlich Unternehmen an, die sich für Nanofluoride interessieren oder einige Liter Sole für Testzwecke bestellen wollen. „Interesse kommt aus vielen Branchen von Glas bis Medizintechnik”, berichtet er. Gerade für das Entspiegeln von Brillen, Linsen, Architekturgläsern oder Solarzellen deuten Fluoride enormes Potenzial an. Denn quasi aus dem Stand kommt ihr Brechungsindex dem nötigen Wert von 1,23 für eine vollständige Entspiegelung nahe. Dagegen liegt das bisher verwandte Siliziumdioxid bei 1,48. Um nachzubessern, helfen sich Beschichter mit aufwendigen Materialsandwiches und Lufteinschlüssen – zulasten der mechanischen Stabilität und der Kosten.
Billigkonkurrenz aus Fernost abgehängt
„Wir schaffen bereits 99,75 % Transmission und werden vollständige Entspiegelung mit einer einzigen, stabilen Schicht schaffen”, ist Kemnitz überzeugt. „Beschichter sagen uns, dass sie ihre Produkte in diesem Fall für den halben Preis vermarkten können”. Dagegen werde auch die Billigkonkurrenz aus Fernost machtlos sein.
Multimillionenmärkte im Visier
Auch im Keramikbereich versprechen Nanofluoride Großes. Mit Magnesiumfluorid
statt -oxid als Sinterhilfe werden Korundkeramiken bei niedrigeren Temperaturen so transparent wie Glas und erreichen Härtegrade von Ultrahartstoffkeramiken. Das verspricht billigen Ersatz teuerer Carbid- und Nitridkeramiken. Und auch Knochenimplantate könnten durch Fluoridzusätze punktuell, etwa an Gelenkpfannen, gehärtet werden. Und nicht zuletzt denkt der Chemiker mit Industriepartnern über Nanofluoride in der Zahnpflege nach. Dafür allerdings müssten zehnmal größere Partikel her, um ungewolltem Eindringen in Körperzellen vorzubeugen.
Eberhard Kemnitz hat also Multimillionenmärkte im Visier. Dennoch sträubte er sich lange gegen eine Firmengründung. „Mit fast 60 ist meine Lust auf so ein Projekt begrenzt”, räumt er ein. Doch es sein zu lassen, ging auch nicht. „Ich hätte es mir als Faulheit ausgelegt, diese Chance nicht zu ergreifen”, schmunzelt er. Auch weil ihm die Transfergesellschaft Humboldt-Innovation GmbH als Mitgründerin volle Unterstützung zusagte, ließ er sich im Juni 2010 auf das Abenteuer ein, die Nanofluor GmbH zu gründen. Sie ist derzeit auf dem Sprung ins benachbarte Innovations- und GründerZentrum Adlershof. Kurze Wege sind ihm wichtig, denn das operative Geschäft soll sein Sohn mit zwei seiner Doktoranden leiten, die er für die Gründung eingestellt hat. Er selbst will Hochschullehrer bleiben. „Dieser Beruf füllt mich voll aus”, sagt er. Als Anorganischer Festkörper-Fluor-Chemiker habe er sein ganzes Leben Fluoride erforscht. Hierin und in der soliden Ausbildung von jungen Wissenschaftlern sieht er seine Aufgabe. Die Applikationsforschung, die nun mit Kunden anstehe, gehöre nicht an die Hochschule. Die sei im Spin-off viel besser aufgehoben.
von Peter Trechow