Homo Haber. Schlüssel zum Weltverständnis
Von Frank Patalong, Autor für Spiegel Online
Als ich acht Jahre alt war, schrieb ich einen Brief an Professor Heinz Haber. Der Physiker und Wissenschaftsjournalist war so etwas wie der Ranga Yogeshwar der Sechziger- und Siebzigerjahre. Mein Held war er, weil er mir im Fernsehen die Welt erklärte. Haber hatte die Antworten, die die Erwachsenen in meinem Leben nicht hatten. Er konnte zeigen, wie eine Eisenbahn funktionierte, aber auch, wie das Wetter entsteht. Was die Milchstraße ist, habe ich von ihm gelernt, und wo wir dort wohnen. Nur mein Brief brachte ihn womöglich ein bisschen in Erklärungsnot.
Ich hatte ihm geschrieben, dass ich ihn ganz toll fand und gern im Sommer für drei Wochen zu ihm auf Urlaub kommen würde. Er erklärte mir in seiner Antwort – man stelle sich das vor: damals antwortete man noch auf so etwas! –, dass er das ganz toll fände, das aber leider nicht möglich sei, weil ja sonst Heerscharen von Achtjährigen zu ihm kommen wollten. Denn müsse man nicht allen erlauben, was man einem erlaubt? Er wünschte mir alles Gute und forderte mich auf, die Welt weiter so eifrig zu entdecken. Ein guter Rat, fand ich, damals wie heute.
Es gibt Menschen, für die ist Wissenschaft etwas, das irgendwelche Eierköpfe im Elfenbeinturm produzieren. Das man in der Schule lernen muss. So eine Art Soft-Science-Fiction in Fernsehdokus. Der langweilige Klumpatsch auf den hinteren Seiten der Wochenendbeilage der Zeitung.
Unzählige Zeitgenossen halten vieles gar für Propaganda: „Space may be the final frontier“, singen spöttelnd die Red Hot Chili Peppers, „but it's made in a Hollywood basement.“ Es gibt wirklich Heerscharen von Leuten, die fest daran glauben, der Astronaut Neil Armstrong sei nie auf dem Mond gewesen. Ich habe sogar einmal jemanden getroffen, dem ich haarklein erklären musste, dass über Spanien tatsächlich die gleiche Sonne scheint wie über Stuttgart.
Wer so denkt, dem fehlt es an Durchblick in mehr als einer Hinsicht. Der Mensch, wie er heute ist, ist ohne Wissenschaft nicht denkbar. Wir sind, wer wir sind, weil unsere die Savanne bewohnenden Vorfahren Entdeckungen machten und lernten, sie zu nutzen und daraus weitere Technologien zu entwickeln. Feuer, Rad, Speer, Messer, Hütte, Mauer, Stadt, Ackerbau, Viehzucht. Kleidung, Medizin, Schrift, Transport, Energie. Gibt es irgendetwas, das unser Leben prägt, was keine wissenschaftliche Fundierung hätte? Es gibt jedenfalls nicht viel.
Längst sind wir so weit, dass wir die Dinge nicht mehr finden und nutzen, sondern schaffen: Wir sind Weltveränderer und -schöpfer – zugegebenermaßen nicht immer zu unserem Vorteil. Auch, dass wir das inzwischen verstehen und die Spuren und Konsequenzen unseres Tuns erkennen, ist aber wieder Wissenschaft. Es ist kein halbes Jahrhundert her, dass wir glaubten, wir könnten mit der Welt tun, was wir wollen, ohne dass sich das rächt.
Das tut es aber, was die Relevanz wissenschaftlicher Erkenntnis im Großen zeigt. Für mich beginnt die aber viel früher: Wer die Dinge versteht, hat mehr Spaß an ihnen. Das ist es, was ich durch Heinz Habers Wissenschaftssendungen gelernt habe. Wenn man die Grundlagen hat, die Welt um sich herum zumindest ansatzweise zu durchschauen, nimmt man die Welt anders wahr. Wissen ist ein Filter, der unsere Sicht auf die Welt schärft und vertieft. Diese „Entzauberung“ der Welt ist eine Bereicherung: Man erkennt das Beeindruckende im vermeintlich Profanen. Man gewinnt Beurteilungskompetenz. Ist weniger manipulierbar. Verliert Angst, wo sie unnötig ist, und weiß auch besser, wo man sich wegducken sollte.
Kurzum: Wissen macht uns erwachsener, bewahrt uns zugleich aber den neugierigen Blick, den wir besaßen, als wir noch Briefe an TV-Professoren schrieben.
Frank Patalong, Jahrgang 1963, arbeitet ressortübergreifend als Autor für Spiegel Online und ist seit Februar 2011 Buchautor.