Hunde und Väter
Essay von Paul Bokowski, Autor aus Berlin
„Nika hätte da gar nicht reingepasst“, sage ich zu dir.
Nika heißt eigentlich Nikita. Aber weil du dir den Namen noch nicht merken konntest, als wir das erste Mal hierher gekommen sind, hast du zu Opas Köter immer Nika gesagt.
„Die Kapsel war winzig“, sage ich.
Wir liegen im Garten. Du hast es mit dem Mond zurzeit. Vor Weihnachten noch Dinosaurier, nach Ostern Raketen. Weil Oma dich eine Nazi-Doku über Peenemünde hatte schauen lassen. Das Raketenfeld. Heeresversuchsanstalt. Woher weiß ich das? Vielleicht von Opa. Meinem. Also deinem Uropa.
„Sicher?“, fragst du mich.
„Hab ich so gelernt“, sage ich. „In der Schule. Nika ist viel größer. Vielleicht viermal größer als der Hund von damals.“
„Laika“, sagst du.
„Ja, Laika“, sage ich.
Ich hätte das alles nicht mehr so gewusst. Aber als deine Mondphase angefangen hat, bist du dankenswerterweise schon beim ersten wackeligen Monolog darüber eingeschlafen. Das hat mir bis zum Frühstück Zeit gegeben, mich schlau zu machen. Kannte ich früher gar nicht. Dass ich schlau sein wollte für jemanden. Ich habe im Internet geschaut. Auch wenn ich Angst hatte, unter den Hyperlinks bei Wikipedia dem Uropa zu begegnen. Ich zeige dir noch nichts. Ich erzähl dir lieber alles. Auch wenn das heißt, es hundertmal zu erzählen. Dass Laika eine Straßenhündin war, aus Moskau. Aber so schlau und gutmütig, dass andere Hunde keine Chance hatten. Dass sie in eine Zentrifuge musste, auf Diät, in einen Raumanzug, wie ein echter Kosmonaut. Dass es gar nicht darum ging, sie auf den Mond zu schießen, sondern nur in einen Orbit. Und was das ist, ein Orbit. Dass ich in der Schule lernen musste, wie man Laika schreibt. Auf Russisch.
Nika hat sich vor der Feuerschale lang gemacht. „Wie geht Nika auf Kyrillisch?“ Du bist der Einzige, der auf ihr liegen darf. Bald bist du zu schwer, aber mit dem Kopf auf ihrem Brustkorb geht es noch. Was Sputnik war, weißt du. Aber wenn ich aushole, um den Kalten Krieg zu erklären, wandert dein Blick zur Glut. Wie du in die Feuerschale starrst, das macht mich fertig. Du hast mein Gesicht und das von deinem Opa und das von Uropa. Die ganze Linie bis zu dir. Ich wäre froh, wenn du mehr von Mama hättest. Wenn das Kinn, die Augen, diese Stirn sich bald verwachsen. Du bist das schönste Kind der Welt. Aber wenn man dem Opa, meinem, also dem Uropa in den Hyperlinks begegnet, sieht man, wo wir beide hergekommen sind. Das wünsche ich dir. Dass man es nicht mehr sieht.
Manchmal knackt das Feuer, macht dich wieder wach. Dann erzähle ich dir noch, dass es ein Denkmal gibt für Laika und in Russland Briefmarken mit ihrem Konterfei.
„Konterfei“, murmelst du.
„Gesicht“, sage ich.
Im Haus sind beide Opas noch präsent. Von deinem gibt es sieben Fotos. Von meinem vier. Alle in schwarz-weiß. Mama dreht die Bilder um, im Zimmer, wo wir wohnen.
Langsam wird es frisch. Wenn du eingeschlafen bist, trage ich dich ins Bett.
Bald bist du alt genug. Dann muss ich dir die Sache mit den Opas sagen. Kannte ich früher gar nicht. Dass ich dumm sein wollte für jemanden. Immer will ich alles richtig machen. Aber mit den Opas weiß ich nicht, was richtig ist. Beides keine Vorbilder. Wenn das Feuer dich nochmal weckt, erzähle ich dir die Wahrheit. Was aus ihr geworden ist. Aus Laika. Heldin wider Willen. Dass sie Stunden nach dem Start verstorben ist. Verreckt. Hitzetod. Dass ihr Kadaver noch über Zweitausendfünfhundert Mal um diese Welt geflogen ist und dann verglüht. Das Feuer knackt nicht mehr. Nur Nika seufzt. Ich greife zwischen deine Haare und ihr Fell und trage dich hinein.
Paul Bokowski lebt und arbeitet in Berlin. Im Herbst 2022 erschien sein Debütroman »Schlesenburg« im btb Verlag.