Ignoranz will gelernt sein: Humboldtpsychologe ist dem Willkürakt auf die Schliche gekommen
Kompetenz entsteht durch das übungsbedingte Ignorieren überflüssiger Informationen. Die Experimente des diesjährigen Adlershof-Dissertationspreisträgers Robert Gaschler belegen, dass dafür etwas nötig ist, das die meisten psychologischen Theorien bislang ignoriert haben.
Robert Gaschler hat die Theorielandschaft der Psychologie nicht unbedingt schöner gemacht. „Leider“, sagt er. Und doch erfüllt es ihn mit Genugtuung. In seiner Doktorarbeit hat der 31-jährige Wissenschaftler der Humboldt-Universität untersucht, wie es Menschen gelingt, sich in der unendlichen Informationsfülle des Lebens zurechtzufinden. Ein zentrales Kriterium dafür: Das Ignorieren irrelevanter Information.
Schleichender Gewöhnungsprozess
Um eine bestimmte Aufgabe durchzuführen, muss man wissen, was wichtig ist. „Die Mehrheit der psychologischen Theorien fußte bisher auf der Annahme, dass dem ein schleichender, unwillkürlicher Gewöhnungsprozess zugrunde liegt“, erklärt Gaschler. Ob das Lernen einer Sprache oder das Fliegen eines Flugzeugs: Irgendwann sei eben genug Wissen angesammelt, und dann wechsle man automatisch auf eine „vereinfachende Bearbeitungsstrategie“.
Übung macht den Meister – gewissermaßen ohne dessen Zutun. Gaschlers Forschungsarbeit stellt diese elegante, weil einfache, These der Kompetenzaneignung infrage. „Das Ansammeln von Wissen allein reicht nicht“, so Gaschler. „Es muss immer auch eine willkürliche Entscheidung getroffen werden, überflüssige Informationen zu ignorieren.“ Dieser Willkürakt allerdings ist eine Angelegenheit von Sekundenbruchteilen. In alltäglichen Situationen entgeht er unserem Aufmerksamkeitsradar.
Gaschler entwarf eine Reihe von computerbasierten Experimenten, die er als „relativ langweilige, dafür aber saubere Laboraufgaben“ beschreibt. Mit ihnen kam er dem kaum greifbaren Willkürakt auf die Schliche. Die Konsequenz daraus ist alles andere als langweilig: Es zeigte sich, dass die gängige psychologische Sichtweise der Vereinfachung von Informationsverarbeitung selbst etwas zu vereinfachend geraten war.
Impfen gegen unerwünschte Informationsreduktion
Der Berliner Psychologe zeigt zudem Ansätze auf, wie man das Ignorieren von Information beschleunigen oder verhindern kann. Letzteres – Gaschler nennt es „Impfen gegen unerwünschte Informationsreduktion“ – ist in vielen alltäglichen Bereichen von Bedeutung. Zahllose Protokolle von Kraftwerksunfällen und Flugzeugabstürzen zeugen von einem menschlichen, allzumenschlichen Versagen: Instrumente, die eigentlich extrem wichtig sind, aber schon lange nichts Interessantes mehr angezeigt haben, verschwinden aus der Wahrnehmung. „Es kam schon vor, dass irgendwann eine Blumenvase vor so ein Instrument gestellt wurde.“
Nicht ganz so spektakulär, doch bisweilen ebenfalls zum eigenen Schaden verlaufen die ganz alltäglichen Fälle von Informationsignoranz. So sind manche Menschen blind für bestimmte Hinweise auf Lebensmittelverpackungen, etwa zum Kaloriengehalt oder zur Umweltverträglichkeit. Gaschler versucht zu rekonstruieren, wie und warum diese Informationen aus dem Blick verschwinden. Es sind diese praxisnahen Einsichten, die Gaschlers Forschung auch über den fachpsychologischen Diskurs hinaus bedeutend machen, etwa für Marketingstrategen oder Verbraucherschützer – bemerkenswert für eine Arbeit der kognitionspsychologischen Grundlagenforschung. Und mit ein Grund dafür, dass sie mit dem Dissertationspreis Adlershof 2009 bedacht wurde
von Markus Wanzeck