Leben im Wunderland
Essay von Jens Lubbadeh, freier Journalist und Kolumnist für Spiegel Online und Jolie
Was rieb sich Alice erst einmal die Augen, als sie sich im Wunderland umsah: Alle rannten dort so schnell. Und doch schien alles stillzustehen. „Wie ist das möglich?“, fragte Alice die Rote Königin. „Hierzulande“, sagte sie, „musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst. Willst du irgendwo anders hin, musst du mindestens doppelt so schnell sein.“
Das klingt doch vertraut: Arbeiten wir nicht alle immer mehr (bei gleichem Lohn)? Werfen Konzerne nicht immer schneller neue Produkte auf den Markt? Heißt es nicht ständig, die Wirtschaft müsse wachsen, wachsen, wachsen? Rennen, um zu überleben. Wer nicht wächst, der hat schon verloren. So das Dogma in der globalisierten, digitalisierten Wirtschaft.
Besonders deutlich wird das in der Unterhaltungselektronik: Jahr für Jahr spülen Apple, Samsung und Co. neue Modelle auf den Markt. Die Lebenszyklen von Produkten haben sich dramatisch verkürzt. Früher kaufte der Deutsche alle zwölf Jahre einen neuen Fernseher. Heute alle vier. Die Innovationssprünge werden dabei kleiner. Wie viel innovativer ist das iPhone 6 wirklich verglichen mit dem iPhone 5? Oder das Samsung Galaxy 4 gegenüber dem Galaxy 3? Oft entpuppt sich die vermeintliche Innovation sogar als Rückschritt (Stichwort: Akkulaufzeit).
Dieses hektische Rote-Königin-Rennen zwischen den Konzernen erzeugt nicht nur Pseudoinnovation, sondern auch Unmengen Elektroschrott. Das Smartphone vom letzten Jahr ist der Müll von heute. Eine beispiellose Verschwendung von Ressourcen. Auch alte Branchen werden davon erfasst – weil alles digitalisiert wird. Beispiel Autos: Weil sie heute rollende Computer sind, werden sie abhängig von den Produktionszyklen der Hard- und Softwareindustrie.
Wie können wir dieses irre Rennen stoppen? Eine Antwort könnte die Evolutionsforschung liefern. Dort hat man nach der Roten Königin eine berühmte Theorie benannt, die das Wettrüsten zwischen Arten erklärt. Je schneller der Hase, desto scharfsichtiger der Adler. Der Wettlauf endet nie. Wie im Wunderland. Wie in der globalisierten Wirtschaft.
Dasselbe bei Krankheitserregern und Menschen. Wir können impfen oder Antibiotika schlucken, so viel wir wollen – die Keime holen irgendwann auf. Selbst wenn wir immun werden, können wir uns darauf nicht ausruhen. Wenn sich heute alles immer schneller dreht, dann deswegen, weil in einer globalisierten Wirtschaft immer irgendwo einer ist, der die Bakterienstrategie verfolgt und den Takt vorgibt. Eigentlich hätten wir dieses Rennen schon vor langer Zeit verlieren müssen. Einfach aus dem Grund, weil Bakterien, Viren und Co. sich viel viel schneller fortpflanzen als wir. Und mit jeder Generation beginnt der Wettlauf erneut, so wie mit jedem neuen iPhone gegen jedes neue Galaxy-Smartphone. Eine Bakteriengeneration dauert vielleicht 30 Minuten. Bei uns dauert sie 30 Jahre.
Aber es gibt einen großen Unterschied: Bakterien teilen sich. Ihr Erbgut ändert sich dadurch nur selten. Sie bekommen also nur ganz wenige neue Karten zugespielt und müssen auf den Joker warten. Wir hingegen mischen die Karten jedes Mal neu. Ganz einfach, weil wir Sex haben. Dabei wird das Erbgut von Vater und Mutter zufällig neu kombiniert. Jedes Kind hält dann ein ganz neues Blatt in der Hand und sein Immunsystem hat eine neue Chance, den Krankheitserreger zu besiegen. Kinder sind echte Innovationen.
Davon sollte unsere Wirtschaft lernen. Konzerne sollten mehr Sex haben! Sich Zeit nehmen, ihre Produkte öfter neu zu erfinden und Vielfalt zu bieten. Das wäre qualitatives Wachstum und nachhaltig obendrein.