Mensch. Maschine. Start-ups
Prof. Jörg Krüger spricht im CHIC-Interview über eine sich wandelnde digitale Produktionswelt, die viele Chancen für Start-ups eröffnet
Geht es um Automatisierung, digital vernetzte Produktion und die Kollaboration von Menschen und Robotern, ist Prof. Jörg Krüger ein Top-Experte. Seit 20 Jahren leitet er den Lehrstuhl für Industrielle Automationstechnik an der Technischen Universität Berlin und den Geschäftsbereich Automatisierungstechnik am Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik IPK Berlin. Im CHIC!-Interview spricht er darüber, dass viele Prozesse in der zunehmend digitalen Produktionswelt neu gedacht werden müssen, wie sich das auf Geschäftsmodelle auswirkt – und Chancen für Start-ups eröffnet.
Herr Prof. Krüger, wie viel Wegstrecke liegt – von ihren Anfängen in der Automatisierungstechnik aus betrachtet – noch vor uns, bis die Vision smarter Fabriken real wird?
Dafür sollten wir zuerst klären, was wir unter einer smarten Fabrik verstehen. Das gibt es viele Definitionen. Es geht einerseits um flexible und adaptierbare Prozesse, um im Rahmen einer Massenproduktion individualisierte Produkte in reproduzierbarer Qualität fertigen zu können. Aber andererseits sollte es doch auch um eine menschengerechte Fertigungswelt gehen, um Nachhaltigkeit und Resilienz - die Fachwelt subsummiert diese Ansprüche unter dem Begriff Industrie 5.0. Und um die Vision umzusetzen, müssen wir noch viele Aufgaben lösen.
Welche?
Damit Prozesse humanzentriert – also menschengerecht – werden, müssen wir Assistenzfunktionen an die individuelle Leistungsfähigkeit der Beschäftigten anpassen. Assistenz sollte unterstützen und die Entwicklung fördern. Zu viel davon kann zur Folge haben, dass sich körperliche und kognitive Fähigkeiten zurückentwickeln. Das wäre nicht smart; denn es geht doch darum, das Beste aus der Kollaboration von Mensch und Maschine herauszuholen und Prozesse dafür an das individuelle Potenzial der Menschen anzupassen. Davon sind wir weit entfernt. Die humanzentrierte Automatisierung ist ein großes, bisher erst ansatzweise erschlossenes Forschungsfeld.
Die reifenden Methoden der Künstlichen Intelligenz lösen aktuell einen Innovationsschub aus. Welches Potenzial sehen Sie in der Kopplung von maschinellem Sehen und KI?
Das maschinelle Sehen entwickelt sich in der Kombination mit sogenannten Convolutional Neural Networks rasant weiter. Diese Entwicklung läuft seit den 1980er Jahren, hat sich in den 2010er Jahren stark beschleunigt und schreitet immer schneller voran. Heute können wir bereits aus rein optischen Daten auf elektrische Widerstände oder relevante Einflussgrößen in Schweißprozessen schließen. Solche bislang unzugänglichen Informationen aus den laufenden Prozessen werden für das ständige Nachjustieren der Parameter nutzbar; auf Basis der Kombination von maschinellem Sehen und Lernen schließen sich Regelkreise.
Wer wird dieses Potenzial heben?
Ein großer Vorteil ist, dass KI in der Qualitätsüberwachung etabliert ist. Es gibt keinerlei Akzeptanzprobleme. Für die Produktionsplanung und -ausführung gilt das nicht, weil KI als nicht-deterministische Methode Unsicherheiten in Bezug auf ihre Reproduzierbarkeit birgt. Darum denke ich, dass das Zusammenspiel von Maschinenbau- und Bildverarbeitungsunternehmen gefragt ist, um KI so schnell wie möglich in die Anwendung zu bringen. Zudem bleiben universitäre Grundlagenforschung und die anwendungsnahe Forschung beispielsweise an Fraunhofer-Instituten unverzichtbar. Denn es geht darum, wissenschaftliche Erkenntnisse in innovative Ideen zu übersetzen und daraus zügig marktfähige Produkte und Lösungen zu entwickeln. In dieser Transferkette können auch Start-ups eine Rolle spielen. Um KI erfolgreich in der Produktion zu verankern, kommt es aber nicht nur auf die Technik an. An der Technischen Universität Berlin entwickeln wir gerade im Zuge eines großen Forschungsverbundes KI-Transferkonzepte für die Produktion und setzen zudem ein interdisziplinäres Forschungsprojekt auf, in dem wir uns mit Human Factors der KI-orientierten Transformation befassen. Ich habe die These, dass wir die größten Hürden für einen breiten KI-Einsatz im psychologischen Bereich finden werden.
Zur smarten Produktionswelt gehören auch Cobots – Roboter, die mit Menschen Hand in Hand arbeiten. Treffen Sie die in Betrieben oder eher in Forschungsfabriken an?
Das Verbinden von Menschen und Robotern ist eine sehr komplexe Aufgabe. Bisher sind vor allem leichte Cobots mit Traglasten unter 10 kg im Einsatz. Sie sind ohne Zäune und Lichtschranken einsetzbar und lassen sich häufig intuitiv anlernen, indem der Mensch sie einmal führt, sie diese Bewegung speichern und dann beliebig oft wiederholen können. In den meisten Anwendungen geht es um Automation bei kleineren Stückzahlen. Um aber das volle Potenzial zu heben, müssen wir Prozessketten neu denken und organisieren. Das ist eine hochkomplexe, rechenintensive Aufgabe. Es geht um Prozessoptimierung, in der Cobots und Individuen ihre jeweiligen Stärken zielgenau einbringen. Der Mensch ist mit seinen sensorisch-taktilen, intuitiven Fähigkeiten sowie seiner Flexibilität und Auffassungsgabe in vielen Fällen überlegen. Dagegen liegen die Stärken von Robotern in der ermüdungsfreien, geduldigen Wiederholung von Belade-, Entnahme- und Transportprozessen mit konstant hoher Kraft und Präzision. Diese Skills sinnvoll zusammenzubringen, gelingt in Fabriken bisher selten. Das ist – und bleibt auf absehbare Zeit – ein Forschungsthema …
…weil das Einbinden von Cobots analog zur Digitalisierung voraussetzt, Prozesse neu aufzusetzen statt sie eins zu eins zu reproduzieren …
… und exakt hier die Komplexität liegt. Es geht wie gesagt oft um Prozesse mit geringen Stückzahlen, in die es unterschiedliche Individuen einzubinden gilt. Diese heterogenen Prozesse zu planen, zu optimieren und dann auch in die Produktionsplanung ganzer Fabriken zu integrieren, ist sehr anspruchsvoll. Ich vermute, dass wir deshalb bisher nur wenige Beispiele für eine intelligente Verzahnung von Mensch und Cobot in der industriellen Praxis sehen. Das ist ein generalisierbares Problem. Flexible und humanzentrierte Prozesse lassen sich digital schwer planen. Wir können beispielsweise über die Sensoren in Orthesen oder Exoskeletten recht genau nachvollziehen, wenn die Kräfte von Menschen nachlassen und diese eine Pause bräuchten. Produktionsabläufe an solche individuellen Befunde zu adaptieren, fällt Unternehmen aber schwer, obwohl sie davon eigentlich nur Vorteile hätten. Aber es fehlt an Lösungen, um solche Komplexität digital umzusetzen. Hier sehe ich auch in der Lehre große Aufgaben vor uns. Wir müssen uns fragen, was Ingenieurinnen und Ingenieure in Zukunft selbst können müssen und was KI für sie erledigen wird. Und auch hier kommt es auf eine gute Balance zwischen hilfreicher und übertriebener Assistenz an, damit wichtige Fähigkeiten nicht verkümmern.
Wo Innovation etablierte Prozesse aufbricht, tun sich Nischen für kleine bewegliche Unternehmen auf. Und Teilhabe an digitaler Wertschöpfung setzt eher Ideen als Startkapital voraus. Ist die industrielle Automation ein gutes Umfeld für Unternehmensgründungen?
Auf jeden Fall. Chancen liegen sowohl in der Entwicklung neuer Systeme als auch im Erhalt und in der Optimierung der bestehenden. Für Start-ups – ich spreche hier aus eigener unternehmerischer Erfahrung – kommt irgendwann der Punkt, dass sie davon leben können, die Funktion ihrer Lösungen bei den Kunden zuverlässig zu erhalten. Dieses Stadium tritt oft schon nach wenigen Jahren ein, zumal gerade bei softwaregetriebenen Innovationen anfangs vor allem die Personalkosten zu Buche schlagen. Dass Automatisierungs-Start-ups Kapital für Hardware-Investitionen benötigen, ist eher die Ausnahme. Viel öfter geht es um Spezialwissen, das Kunden langfristig brauchen.
Sie haben in den letzten 20 Jahren viele Start-ups kommen und gehen sehen. Welchen Eindruck haben sie von der Gründungskultur in und um die Berliner Hochschul- und Forschungslandschaft?
Es hat sich sehr vieles zum Positiven verändert. Allein die EXIST-Programme, in denen die Teams ihre Gründungsideen finanziell abgesichert vorantreiben können, sind ein riesiger Fortschritt gegenüber früheren Zeiten. Das übrigens auch für die betreuenden Hochschulen und Forschungsinstitute. Denn so sehr wir die Ausgründungen schätzen und fördern, so klar ist auch, dass wir dabei oft besonders gute, hoch motivierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verlieren. Sie können die Zeit der EXIST-Förderung nutzen, um ihr Wissen an ihre Nachfolgerinnen und Nachfolger zu transferieren – und bei uns am Institut klappt das auch hervorragend. Denn dieser Transfer hat für Spin-offs zweierlei Nutzen: Sie knüpfen tragfähige wissenschaftliche Kontakte ins Institut und teils legt die Wissensweitergabe die Basis für eine künftige Zusammenarbeit. Nicht selten rekrutieren unsere Spin-offs Fachkräfte am Institut, wenn sie personell wachsen. Ich freue mich über jedes neue Unternehmen. Denn dort sammeln sich in der Regel die intrinsisch motivierten Menschen, auf deren Schultern die Gesellschaft der Zukunft ruhen wird. Welche Form von Wertschöpfung sie auch betreiben – ob industrielle Automation oder ein Exoskelett, mit dem sich eingeschränkte Menschen wieder frei bewegen können – ist zweitrangig. Es kommt darauf an, etwas Nützliches zu schaffen, das die Gesellschaft und unseren gesamten Wertekompass im besten Sinne voranbringt.
Zur Person:
Prof. Jörg Krüger leitet seit dem Jahr 2003 den Lehrstuhl für Industrielle Automationstechnik am Institut für Werkzeugmaschinen und Fabrikbetrieb (IWF) an der TU Berlin. Im Jahr darauf wurde er zum Direktor des Geschäftsfelds Automatisierungstechnik am Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik IPK Berlin berufen. Seine Forschungsschwerpunkte sind die menschenzentrierte, bildgestützte Automatisierung, für die er mit seinen Teams Steuerungs- und Robotersysteme entwickelt. Dabei liegt der Fokus auf Mensch-Roboter-Kollaboration sowie auf maschinellem Sehen zur Objekt- und Lageerkennung in der Produktion.
Das Interview führte Peter Trechow für CHIC!