Menschen sind ohne andere Tiere „nicht ganz vollständig“
Essay von Dr. Kurt Kotrschal, österreichischer Biologe, Verhaltensforscher und Autor
In etwa 15 Millionen der deutschen Haushalte leben 16,7 Millionen Katzen, 10,3 Millionen Hunde sowie 4,6 Millionen Kleintiere, vorwiegend soziale Kumpane. Selbst die etwa 1,3 Millionen Pferde mutieren immer mehr vom „Sport- und Freizeitgerät“ zum Sozialpartner. Die Haltung dieser Tiere bewegt pro Jahr mindestens etwa zehn Milliarden Euro, macht also 0,5 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts aus, wodurch etwa 250.000 Menschen in Arbeit gehalten werden. Seltsam eigentlich – warum sind wir Menschen uns selbst nicht genug?
Im Zuge der weltweit zunehmenden Verstädterung werden nicht weniger, sondern immer mehr Kumpantiere gehalten. Tatsächlich bleiben Menschen, die in guter Beziehung zu Hund & Co. aufwachsen und leben, körperlich gesünder und resilienter gegenüber den heute epidemischen mentalen Problemen. Als „soziale Schmiermittel“ verbessern Hunde die Kommunikation zwischen Menschen und sie erfüllen mit der Zuwendung, derer sie bedürfen und geben können, ein zentrales menschliches Bedürfnis. Das ist übrigens keine dekadent-postmodernistische Fehlentwicklung. Bereits altsteinzeitliche Jäger lebten mit zahmen Wildtieren – als ihre spirituellen und sozialen Partner. Tierbeziehung ist offenbar Teil des Menschseins. Erich Fromm und Edward Wilson bezeichneten diese seltsame, evolutionär entstandene Universalie der nahezu instinktiven menschlichen Sehnsucht als „Biophilie“. In Kontakt mit Tieren und Natur wuchsen in der Menschwerdung die typischen Fähigkeiten zu reflektieren, zu philosophieren und uns spirituell und/oder wissenschaftlich mit der Welt in Beziehung zu setzen.
Dass Menschen mit anderen Tieren leben wollen, erklärt aber noch nicht, warum sie das auch können. Bereits Charles Darwin stellte fest, dass Menschen die meisten ihrer Merkmale mit anderen Tieren teilen, was sich aus der Stammesgeschichte ergibt. Aus den Nervenzellen ihrer Vorläufer entstanden vor 560 Millionen Jahren mit den bilateralsymmetrischen Tieren die ersten Gehirne, die bald auch Kosten und Nutzen abwägen, Muster erkennen, Raum und Zeit mental repräsentieren und Neugierde entwickeln konnten. Vor etwa 150 Millionen Jahren geschah mit der aus Säulen aufgebauten Großhirnrinde der Säugetiere ein Durchbruch. Er gestattete es, die Umwelt nicht nur wahrzunehmen, sondern vielmehr zu antizipieren. Schließlich kam es bei den Primaten – zu denen ja auch die Menschen gehören – mit den Fähigkeiten des Einfühlens und Eindenkens zu einer sozialen Revolution; daraus entsprang schließlich als unser wichtigstes Alleinstellungsmerkmal auch die komplexe Symbolsprache.
Aufgrund der stammesgeschichtlich bedingten Wesensverwandtschaft gilt das „Darwinsche Kontinuum“ der Merkmale zwischen Menschen und anderen Tieren auch für die mentalen Eigenschaften. Deswegen rekrutieren sich aus den sozialen Säugetieren auch unsere wichtigsten Kumpan-, Heim- und Nutztiere, deswegen können sich Menschen auch sozial mit „anderen Tieren“ einlassen. Oder sollten das sogar. Denn gerade aufgrund eines riesigen Hochleistungsgehirns wurden Menschen als soziokognitive Spezialisten für psychische Probleme höchst anfällig. Dagegen schützt am wirksamsten eine gute soziale Einbettung, einschließlich eines Lebens in guter Beziehung zu Kumpantieren. Die Wesensverwandtschaft mit Hund, Katze & Co, aber auch mit Rind oder Schwein fordert Respekt für sie ein. Dass sie Teil von uns und wir Teil von ihnen sind, ist heute naturwissenschaftliches Faktum.
Dr. Kurt Kotrschal ist Professor i. R. am Department Verhaltensbiologie und Kognition der Universität Wien, Mitbegründer des Wolfsforschungszentrums der Veterinärmedizinischen Universität Wien und Sprecher der AG Wildtiere am Forum Wissenschaft & Umwelt.