Neues Ur-Kilo kurz vor der Premiere
Mit einer isotopenreinen Siliziumkugel geht das Avogadro-Projekt auf seine letzte Etappe
Wie alles begann: Mit einer einen Meter langen Holzkiste als Handgepäck reist ein russischer Physiker im September 2006 nach Berlin zum Institut für Kristallzüchtung. Hier soll aus dem polykristallinen Rohstab ein einziger großer Kristall, eben ein "Einkristall", gemacht werden, denn die Wissenschaftler des Avogadro-Projekt brauchen nicht nur einen sehr reinen sondern auch überaus gleichmäßigen Einkristall für ihre Untersuchungen. Das "Floating Zone-Verfahren" findet in einer haushohen Kristall-Züchtungsanlage statt, dabei wird der Siliziumstab langsam durch eine Schmelzzone, eine Art Heizring geführt. Im Heizring schmilzt das Silizium, die Atome können sich frei bewegen und ordnen sich beim Erstarren der Schmelze gleichmäßig an. Gleichzeitig sammeln sich die Verunreinigungen, die immer noch im Material vorhanden sind, in der Schmelze und wandern mit ihr bis zum oberen Kristallrand, wo sie schließlich abgeschieden werden.
Doch die erste Versuche schlagen fehl, die Schmelze läuft aus, der Vorratsstab teilt sich in zwei Fragmente. Mehrmals muss das Verfahren abgebrochen und neu gestartet werden. Der Siliziumstab ist kein Standardprodukt, kreative und unorthodoxe Lösungen müssen her. Schließlich gelingt es: Im Frühjahr 2007 haben die Berliner Wissenschaftler einen perfekten Einkristall geschaffen. Ein Laie könnte die Perfektion nicht erkennen, denn noch immer ist es ein dunkler, dicklicher, unregelmäßiger Stab, aber die Anordnung der Atome im Kristallgitter könnte gleichmäßiger kaum sein und lässt die Physikerherzen höher schlagen.
Doch zum Messen taugt der dickliche Zylinder nicht. Er wird in Teile gesägt: Die kleineren bekommen die Projektpartner und Forschungsinstitute weltweit, um alle Eigenschaften des Materials, die für die exakte Bestimmung der Avogadrokonstante wichtig sind, zu messen. Die beiden größten Stücke jedoch machen sich auf die Reise ins australische Zentrum für Präzisionsoptiken. Begleitet werden sie von einer Art Bodyguard, einem Mitarbeiter des Internationalen Büros für Maß und Gewicht aus Paris, der die Kristallteile sicher in die Hände von Achim Leistner legen soll.
... und jetzt der Vollendung entgegensieht
Am 10. April 2008 kommt eine neue isotopenreine Siliziumkugel von der letzten Station ihres Produktionsprozesses aus Australien in die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB). Damit geht das von der PTB koordinierte Avogadro-Projekt zur Neudefinition des Kilogramms auf seine letzte Etappe: Die Wissenschaftler erhoffen sich von der 28Si-Kugel den entscheidenden Durchbruch bei der Bestimmung der Avogadro-Konstanten, also der Zahl der Teilchen in einem Mol Stoffmenge. Mit den bisherigen Kugeln aus einem Silizium-Isotopenmix konnte die erforderliche Genauigkeit nicht erreicht werden. Mit ihrer einzigartigen Reinheit, ihrer gleichmäßigen Struktur, der überaus glatten Oberfläche und nicht zuletzt ihrem Preis kommt die neue Kugel einer Diva gleich, die weltweit nur ein einziges Pendant hat: einen Zwilling, der für Vergleichsmessungen nach Japan reist. (Der Produktion der Kugel widmen wir hier eine eigene spannende Geschichte.)
Welch Ebenmaß der Rundung, welch strahlende Schönheit! Am 10. April kommt sie mit dem Flugzeug aus Australien. Nach einem kurzen Zwischenstopp in Paris wird sie schließlich in Braunschweig ihre perfekte Form offenbaren und die Herzen der PTB-Wissenschaftler höher schlagen lassen.
Die Schöne ist eine etwa 10 cm dicke Kugel aus Silizium, so lupenrein, glatt und rund wie keine vor ihr. Mit Hilfe der Kugel wollen die Physiker der PTB das Kilogramm neu definieren – jene Maßeinheit, an der sich seit der französischen Revolution die Waagen der Welt messen lassen müssen und deren Prototyp in einem Pariser Safe sicher verwahrt wird. Im Wettlauf mit anderen Forschern rund um die Welt will das Team um Peter Becker die Kilogramm-Definition auf eine unveränderliche Konstante zurückführen, die – im Gegensatz zu einem Prototyp – weder herunterfallen noch sich auf andere Art verändern kann. Sie wollen zählen, wie viele Atome sich in der Kugel befinden, und für diese Aufgabe brauchen sie die vollkommenste Siliziumkugel der Welt. Etwas, was es noch nie gab. Und so ist die Erschaffung der Kugel eine ganz eigene Geschichte geworden, in der Wissenschaft und Technik eine große Rolle spielen, aber auch internationale Politik, Menschen mit besonderen Fähigkeiten und natürlich Geld. Die Entstehungsgeschichte dieser Kugel zeigt, wie spannend Forschung sein kann. Und das sogar schon, bevor die eigentliche Arbeit beginnt.
Fünf Jahre lang hat das Team um Fachbereichsleiter Peter Becker auf den Moment gewartet, die perfekte Kugel in den Händen zu halten. So lange hat es gedauert, mit höchsten technischen Raffinessen das Material herzustellen, daraus einen Kristall zu ziehen, ihm eine Form zu geben und mit viel menschlichem Geschick deren Oberfläche zu polieren. Sie besteht zu 99,99 Prozent aus dem Silizium-Isotop-28 und ihre Kristallstruktur ist nahezu perfekt. Zudem ist sie so rund, wie eine Kugel nur sein kann: Misst man den Radius von der Kugelmitte zur Oberfläche an verschiedenen Stellen, ist die Abweichung nirgendwo größer als 30 Nanometer – das sind 30 millionstel Millimeter.
Der Aufwand war notwendig, denn Peter Becker und seine Kollegen wollen die Kugel genauestens ausmessen – ihre Oberflächentopographie, ihr Volumen, ihre Masse, das Volumen einzelner Atome und deren Abstand im Kristallgitter. Es werden Tausende von Messungen sein und sie müssen sehr exakt werden. Bisher war das in dieser hohen Güte nicht möglich, denn herkömmliche Siliziumkristalle enthalten unterschiedliche Silizium-Isotope, fremde Atome oder Löcher in der Gitterstruktur, die die Messungen verfälschen.
Doch die Braunschweiger Wissenschaftler und ihre Kooperationspartner in Belgien, Italien, USA, Frankreich, Japan und Australien sind nicht die einzigen, die sich auf die Suche nach einer Neudefinition des Kilogramms gemacht haben. Es ist ein regelrechtes Wettrennen entstanden, bei dem zurzeit britische und amerikanische Physiker die Nase vorn haben. Wie auch Kollegen in Frankreich und der Schweiz wollen sie mit der sogenannten Wattwaage das Kilogramm definieren. Dabei werden Gewichtsstücke mit einem speziellen Elektromagneten ausgewogen. Spannung und Strom in dem Magneten können extrem genau bestimmt werden und dadurch elektrische und mechanische Einheiten (hier die Masse) miteinander verknüpft werden. Am Ende könnte die Masse fixiert werden über eine Konstante aus der Quantenphysik: das Plancksche Wirkungsquantum. Bisher kommen die verschiedenen Wattwaagen jedoch noch zu unterschiedlichen Ergebnissen. Ohnehin wird nicht nur ein Ansatz den Wettlauf um die Neudefinition des Kilogramms gewinnen, denn erst wenn zwei Experimente unabhängig voneinander zu dem gleichen Ergebnis kommen, wollen die Hüter des Urkilogramms sich auf eine Neubestimmung einigen.
PTB-Ansprechpartner
Dr. Peter Becker, Fachbereich 4.3 Quantenoptik und Längeneinheit
Tel. (0531) 592 – 4300
E-Mail: Peter.Becker(at)ptb.de
Quelle: PTB Pressemitteilung vom 3.4.2008