Ohne Glas geht es nicht
Adlershofer Wissenschaftler der BAM forschen an bruchsicherem Glas
Wenn Ralf Müller über Glas spricht, gerät er leicht ins Schwärmen. „Ein faszinierender Werkstoff, deutlich leichter als Stahl und auch fester“, sagt der Leiter des Fachbereichs 5.6 Glas der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) in Berlin Adlershof – und fügt hinzu: „In der Theorie!“ Daran, sich dieser theoretischen Festigkeit anzunähern, forschen Müller und seine Kollegen. Eingebunden in ein Schwerpunktprogramm der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) untersucht die BAM gemeinsam mit der Technischen Universität Clausthal und der Leibniz Universität Hannover, wie Glas bruchfester werden kann.
Vor 3.000 bis 4.000 Jahren haben die Ägypter und Mesopotamier die Herstellung von Glas erfunden. Aber schon Steinzeitmenschen haben natürliches Glas als Messer und Schaber eingesetzt. Bis zur ersten automatischen Flaschenblasmaschine – 1903 – war es ein weiter Weg. Heute ist der Werkstoff Glas auch fernab von Fenster-, Trink- oder Einmachglas so vielfältig verwendbar wie nie. Glasröhren finden Einsatz als Bioreaktoren für die Algenzucht, glasfaserverstärkte Polymere eröffnen neue Möglichkeiten für den Schiffsbau oder den Bau großer Windräder, Smartwatches erhalten besonders kratzunempfindliches Glas, Spezialglas schützt die Kamera der Raumsonde Juno, die seit 2016 Bilder vom Jupiter sendet. In elektronischen Bauteilen, als Displayglas von Mobiltelefonen, Fernsehern und Computern, als Baustoff, Lotglas oder gar als Implantat ist Glas nicht mehr wegzudenken. „Ohne Glas geht es nicht“, sagt Ralf Müller. „Es ist sehr wandlungsfähig, verträgt hohe Temperaturen, ist formstabil und vielfältig formbar, als Verpackungsmaterial absolut gasdicht, geschmacksneutral, ohne Wechselwirkungen mit anderen Materialien, dazu sehr gut recycelbar.“ Aber: Es bricht.
Auch wenn Glas sehr hohe Festigkeiten erreichen kann, kann diese Stärke, hauptsächlich wegen seines schwachen Widerstandes gegen Oberflächenschäden, kaum genutzt werden. Wie gefährlich diese Schäden sind, darauf hat Wasser einen entscheidenden Einfluss. Schon mikroskopisch kleine Risse und deren Wachstum werden etwa von der Umgebungsfeuchtigkeit oder dem im Herstellungsprozess eingeschlossenen Wasser stark beeinflusst. Die Untersuchung der Wirkung von Wasser auf das Risswachstum führt Experten der Gebiete Festigkeit, Glasstruktur sowie Lösung und Diffusion von Wasser in Glas in einem DFG-Projekt zusammen. Dessen Ziel ist die Ableitung struktureller Designprinzipien zur Entwicklung ultrafester Gläser.
„Wir untersuchen das Risswachstum in Gläsern und welchen Einfluss Wasser und die Glaszusammensetzung darauf ausüben“, erklärt Tina Waurischk, Doktorandin am Institut. Sie hat dafür ein Gerät aufgebaut, in dem langsam wachsende Risse in verschiedenen Umgebungen und auch im Vakuum untersucht werden können. Waurischk spannt dafür Glasproben in das Gerät und unterzieht sie Zugbelastungen.
„Man weiß praktisch nichts über den allgemeinen Einfluss der Glaszusammensetzung auf das Risswachstum“, erklärt Ralf Müller. Dass Risse in Gläsern bei hoher Luftfeuchtigkeit schneller wachsen, sei nicht neu, allerdings haben vorhergehende Untersuchungen fast ausschließlich technische Gläser betrachtet. „Auch wenn wir hier Grundlagenforschung betreiben, haben wir Glas-Alltagsprodukte im Blick“, sagt Müller. Zwar gebe es bereits Verfahren, Glas härter zu machen, diese seien aber für viele Alltagsprodukte nicht praktikabel oder zu teuer. Leichtere,aber gleich stabile Trinkflaschen beispielsweise, sparen nicht nur Material, sie vereinfachen durch das geringere Gewicht den Transport für Produzenten und Kunden, senken den Energieverbrauch und schonen somit die Umwelt. Mit ultrastarken, rissfreien Gläsern seien zum Beispiel auch riesige, bruchfeste Glaskonstruktionen für die Photovoltaik vorstellbar. „Theoretisch hält ein Millimeter Glasfaser eine Tonne Stahl“, schmunzelt Müller, „aber der Kampf gegen die Natur ist hart.“
Von Rico Bigelmann für Adlershof Journal