Produktives Biotop für Digital Health Start-ups
Interview mit Dr. Kai Uwe Bindseil, Abteilungsleiter Gesundheitswirtschaft der Berlin Partner für Wirtschaft und Technologie GmbH
Die Digitalisierung durchdringt alle Bereiche des Gesundheitswesens – und gilt als Schlüssel, um die Effizienz der Versorgung, medizinischen Forschung oder auch in der Arzneimittelentwicklung zu steigern. In der Hauptstadtregion tragen zahlreiche Start-ups und gereifte Unternehmen zu diesem digital getriebenen Fortschritt bei. Im Interview spricht Kai Uwe Bindseil, Abteilungsleiter Gesundheitswirtschaft der Berlin Partner für Wirtschaft und Technologie GmbH, über die technologischen und wirtschaftlichen Potenziale der Digitalisierung, über junge Unternehmen und über deren Startbedingungen im Berlin-Brandenburger HealthCare-Biotop.
Herr Bindseil, wo liegen die Stärken der Gesundheitswirtschaft in der Hauptstadtregion?
Exzellenz und Diversität. Wir sind als Standort einzigartig, weil wir eine starke Pharma-, Medizintechnik- und Biotechnologiebranche haben. Darüber hinaus gibt es mit der Charité eine herausragende Universitätsklinik, mit Vivantes den größten kommunalen Klinikverbund sowie zahlreiche weitere Krankenhäuser und Praxen. Hinzu kommt die Dichte an Hochschulen und Technologieparks wie Adlershof, Buch oder Golm. Medizinische Praxis und Forschung gehen hier Hand in Hand mit starkem unternehmerischen Handeln. Unsere Branche ist eng vernetzt und profitiert von den kurzen Wegen des Ballungsraums. Auch die Nähe zur Bundes- und Landespolitik ist ein wichtiger Standortfaktor.
Ein Blick in den aktuellen Life Sciences Report Berlin-Brandenburg zeigt, wie sehr Innovationen der Branche digital getrieben sind. Welche Rolle kommt Start-ups beim digitalen Fortschritt zu?
Schnelle Kurswechsel gelingen nicht mit großen Tankern, sondern mit kleinen beweglichen Schnellbooten. Start-ups entwickeln oft innovative Ideen und Geschäftsmodelle, die Abläufe vereinfachen. Denken Sie an die Vermittlung von Arztterminen, an Apps für chronisch Erkrankte oder an die Beiträge junger Biotechnologieunternehmen zum medizinischen Fortschritt. Gerade digitale Innovationen sind in der Gesundheitswirtschaft stark von Start-ups getrieben. Aber es gibt auch Bereiche mit sehr hohen Entwicklungskosten. Um ein neues Medikament mit allen klinischen Studien zur Marktreife zu entwickeln oder ein ausgereiftes bildgebendes Diagnosegerät zu entwickeln, brauchen Sie hohe dreistellige Millionenbeträge. Das können nur Großunternehmen stemmen.
Wie können datengetriebene, durch künstliche Intelligenz unterstützte Prozesse zur Qualität und Effizienz im Gesundheitswesen beitragen?
Beim Einsatz von Daten stehen wir in der deutschen Gesundheitswirtschaft erst am Anfang. Es gibt viele isolierte Datensilos. Hier die Abrechnungsdaten. Dort medizinische Patientendaten, die allerdings stark fragmentiert sind. Noch sind wir daher weit von einer flächendeckenden Nutzung von Big-Data- und KI-Methoden entfernt. Aber deren Potenzial für die Arzneimittelforschung, die bildgebende Diagnostik, klinische und administrative Prozesse und für viele weitere Bereiche ist längst unumstritten. Es gibt in unserer Region vereinzelt Unternehmen, die es aufzeigen. Etwa mit webbasierter interaktiver Diagnostik, die Patientinnen und Patienten anhand ihrer Symptome Schritt für Schritt zu einem Befund leitet – was bei der Diagnostik seltener Krankheiten zu einer echten Hilfe für Ärztinnen und Ärzte werden kann.
Aber?
Die Datenbasis für die Entwicklung dieser Software hat das Unternehmen aus den USA bezogen, weil es sie hierzulande nicht gibt. Das müssen wir ändern, damit die Lösungen für eine datenbasierte Medizin bei uns entstehen können. Es mangelt nicht an Ideen und Innovationsgeist, sondern am Datenzugang. Erfreulicherweise gibt es erste Initiativen, die das Problem lösen wollen. So haben sich die Charité, Vivantes und weitere Kliniken zusammengetan, um eine gemeinsame sichere Datenbasis für die medizinische Forschung und Entwicklung aufzubauen. Ein gutes Signal ist auch der Plan der aktuellen Bundesregierung, bei der elektronischen Gesundheitsakte vom Opt-in- zum Opt-out-Verfahren zu wechseln: Patientinnen und Patienten müssten der Nutzung aktiv widersprechen, statt diese beantragen zu müssen.
Das Gesundheitswesen ist stark reguliert. Ist das ein hemmender Faktor für junge Unternehmen und innovative Ideen?
Es gibt gute Gründe dafür, innovative Ideen zunächst sehr sorgfältig zu prüfen und klare Regelwerke zu befolgen. Es geht ja um Menschen, die ein Recht auf körperliche Unversehrtheit und den Schutz ihrer persönlichen Daten haben. Im Gesundheitswesen zu gründen ist grundsätzlich schwieriger als in schwach regulierten Märkten, weil sie neben der Produktentwicklung, Kundenakquise und Unternehmensentwicklung sehr viel Zeit und Geld für die Zulassung ihrer Lösungen aufwenden müssen. Selbst, wenn sie „nur“ Apps entwickeln, steht und fällt ihr Erfolg damit, ob diese als „Digitale Gesundheitsanwendungen“ (DIGA) zugelassen werden. Nur dann erstatten Krankenkassen die Kosten. Aktuell gibt es viel weniger Zulassungen als Unternehmen, die DIGAs entwickeln. Hier wird sehr viel Potenzial für eine effizientere Behandlung verschenkt.
Das Health Capital Cluster unterstützt Start-ups. Gibt es Maßnahmen und Angebote, die sich als besonders hilfreich erwiesen haben?
Auf unserer Plattform kommen Start-ups mit etablierten Unternehmen und den verschiedensten Akteuren aus der medizinischen Forschung und Praxis sowie mit potenziellen Geldgebern oder auch mit Betreibern von Technologieparks zusammen. Einmal jährlich veranstalten wir ein „Barcamp Health-IT“ zu einem bestimmten Thema. Dort stellen einige Dutzend junger Teams ihre Ideen vor üblicherweise rund 250 Fachleuten aus unserem Netzwerk vor. Über etwa ein Dutzend wird dann genauer gesprochen. Die versammelte Schwarmintelligenz hilft, die Ideen zu hinterfragen und schärfen, Unterstützung aus dem Netzwerk zu aktivieren oder um Pilotanwendungen und Partnerschaften einzufädeln. Es geht hier nicht um anstrengende Sales-Pitches, sondern um einen Austausch in angenehmem Rahmen. Daneben treffen wir uns zweimal jährlich mit allen, die im Unterstützungs- und Fördersystem unserer Region mitwirken. Hierbei erörtern wir, wie wir unser Ökosystem weiter stärken können. Aktuell planen wir einen „Super Demo-Day“, für den wir international werben. Das Ziel dieses Formats ist es, die besten Ideen und Start-ups unserer Region vorzustellen.
Das Gesundheitswesen gilt als konservativ. Wirbt ihr Cluster auch nach innen für mehr Offenheit gegenüber den Innovationen von Start-ups?
Das war seinerzeit eine Motivation für die Gründung unseres Clusters. Die Branche war noch stark fragmentiert. Mit der Folge, dass Hochschul-Spin-offs teils sehr auf ihre Technologie fixiert waren und dann erkennen mussten, dass sie am Markt vorbei entwickelt hatten. Aber in der Gesundheitswirtschaft ist frühzeitiger Austausch mit der medizinischen Praxis, den Krankenkassen und den Patientinnen und Patienten das A und O. Start-ups müssen also die Perspektiven aller anderen Beteiligten ihrer Wertschöpfungskette kennen und in ihre Lösungen einfließen lassen. Dafür brauchen sie das direkte Gespräch und ständigen Austausch. Dafür bietet unser Cluster die Plattform. Mittlerweile ist allen klar, dass wir die Potenziale der Digitalisierung ausschöpfen müssen, um das Gesundheitssystem effizienter zu machen und den Fachkräftemangel zu kompensieren.
Laut Life Sciences Report tragen Innovations- und Gründungszentren sowie Technologieparks sehr zur nachhaltigen Branchenentwicklung bei. Beim Schritt aus den geförderten Zentren erleben viele Start-ups jedoch einen Mietpreisschock. Wie lässt sich gegensteuern, damit sie der Region treu bleiben?
Das ist nicht einfach. Wir können Unternehmen nur befristet fördern, bis sie auf eigenen Beinen stehen. Allerdings können sie nur bedingt ausweichen, wenn sie ihre oft hochspezialisierten, in der Region verwurzelten Beschäftigten halten wollen. Um das Dilemma zu lösen, brauchen wir mehr Flächen. Mehr Bauland in und um Berlin, verkehrstechnisch gut angeschlossene Korridore ins Umland und investitionsfreundliche Bedingungen. Es gibt gute Ansätze. Etwa die Flächenreserven in den Technologieparks und privatwirtschaftliche Campusprojekte, wie sie Bayer und die Charité oder auch Siemens in Berlin vorantreiben. Letztlich müssen Start-ups die Stärke entwickeln, um sich im freien Markt zu behaupten – was ihnen mittlerweile immer häufiger gelingt.
Zur Person: Seit mehr als einem Jahrzehnt begleitet Dr. Kai Uwe Bindseil die Entwicklung der HealthCare-Branche in der Hauptstadtregion als Abteilungsleiter Life Sciences der Berlin Partner für Wirtschaft und Technologie GmbH und Manager des Branchenclusters Health Capital Berlin Brandenburg. Darüber hat der promovierte Chemiker nicht nur Einblick in die Marktentwicklung, Technologietrends und Rahmenbedingungen der Branche, sondern auch in die Startbedingungen und Förderangebote für Start-ups, zu denen sowohl Berlin Partner als auch das HealthCapital Cluster wichtige Beiträge leisten.