Sichere Wege: Erdbebenfrühwarnsystem für Istanbul
Die 13 Mio.-Einwohner-Metropole Istanbul rüstet sich für ein großes Erdbeben. Wann es kommt, kann bis heute niemand vorhersagen. Also arbeiten Forscher an einem Frühwarnsystem. ?So könnte es möglich sein, noch rechtzeitig Notfallmaßnahmen zu ergreifen, zum Beispiel den Strom abzuschalten, den Druck in Gasleitungen zu senken, Rettungskräfte gezielt in voraussichtlich besonders betroffene Gebiete zu schicken?, sagt Joachim Fischer. Der Informatikprofessor von der Berliner Humboldt-Universität zu Berlin leitet das Graduiertenkolleg METRIK, in dem Wissenschaftler verschiedener Institutionen unter anderem grundlegende Technologien für ein solches Frühwarnsystem entwickeln.
Die Idee: Die Stadt wird mit einem Netz aus Tausenden von autonomen Sensorknoten überzogen. Auf der Größe einer Milchtüte haben ein Prozessor, eine Antenne und Sensoren Platz. Mit deren Hilfe können die Erschütterungen registriert, ihre Ausbreitung vermessen und die Daten zum Beispiel über WLAN von Knoten zu Knoten an eine Zentrale gesendet werden. Seit 2008 wird in Istanbul zu Versuchszwecken bereits ein kleines Netz aus 20 Knoten betrieben.
Die wichtigste Aufgabe für die Informatiker ist es, den zunächst autarken Knoten die Fähigkeit zur Kooperation beizubringen. Nur so können Teams benachbarter Knoten lokale Erschütterungen nicht nur messen, sondern auch sofort bewerten, um so beispielsweise ihre Ausbreitungsrichtung und Geschwindigkeit festzustellen. Die zusammengestellten Informationen müssen sich dann einen optimalen Weg zur Sicherheitszentrale bahnen können. Dabei soll das System auch gegen mögliche Störungen wie defekte Knoten, überlastete Wege oder durch Wettereinflüsse behinderte Wege gewappnet sein. Zusätzlich werden besondere ?Gateway-Knoten? über das Internet mit bestehenden Geoinformationssystemen (GIS) verknüpft, um Rettungskräften Recherchen zu gebietsspezifischen Katastrophendaten mit genauen Ortsangaben zu ermöglichen.
Zurzeit bauen die METRIK-Forscher auf Adlershofer Dächern das drahtlose ?Humboldt Netz? auf. Das ist ein Testnetz aus 100 Knoten, das zum offiziellen Start der zweiten Förderrunde im Mai dieses Jahres in Betrieb gehen soll. Mit simulierten Daten von Erdbebenwellen wollen sie vor Ort die Reaktionsfähigkeit und Funktionsweise des Netzes testen und optimieren. ?Damit erarbeiten wir aber auch die Grundlagen für ganz viele andere Anwendungen und entwerfen weitergehende Visionen dazu?, betont Fischer. Netzwerke aus Temperatursensoren können zum Beispiel Waldbrände detektieren oder in Krankenhäusern Zusammenhänge von heißen Temperaturen und Patientensterblichkeit ermitteln helfen.
Dass Informatik wichtige Dienste für die Sicherheit leisten kann, davon ist auch Silvia Nitz von der Gesellschaft zur Förderung angewandter Informatik (GFaI) überzeugt. Sie leitet ein Teilthema des Bundesforschungsministerium- Projekts ?Sicherheit in offenen Verkehrssystemen? (SinoVE), an dem maßgeblich die Bahn und einige Unternehmen wie Siemens und Bosch beteiligt sind. Am Beispiel des Frankfurter Hauptbahnhofes soll demonstriert werden, wie Menschenströme in Gefahrensituationen sicher gelenkt werden können. Um bestehende Monitoringsysteme wie Videoüberwachung zu ergänzen, wollen die Forscher Menschenströme simulieren, zum Beispiel für den Fall, dass tausende Fußballfans auf den Bahnhof strömen.
?Eine wichtige Grundlage dafür ist ein 3-D-Modell des Bahnhofs?, erläutert Nitz. ?Für die meisten Gebäude existieren aber nur gewöhnliche CAD-Pläne in 2-D, auf denen nur Linien zu sehen sind, die der Interpretation bedürfen.? Nitz und ihre Kollegen entwickeln ein Software-Verfahren, das wie ein geübter Architekt diese Zeichnungen in ein 3-D-Modell übersetzen kann ? automatisch. ?Besonders wichtig ist, zu erkennen, wie Räume miteinander verbunden sind, welche Art von Türen es gibt, wo sich bei großen Menschenmengen eventuell Engpässe ergeben könnten?, sagt Nitz. Auf dieser Basis können durch GFaI-Verfahren automatisch Fluchtpläne erstellt werden, die sich mit dynamischen Modellen auch sofort an Gefahrensituationen anpassen lassen.
von Uta Deffke