Unsere wichtigste Zeit. Essay von Ulrich Schnabel, Wissenschaftsredakteur der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT
Dem verstorbenen Schriftsteller Michael Ende verdanken wir zweifellos einige der erstaunlichsten Wissenschaftsgeschichten der Moderne. Zuerst erforschte er mit Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer den Scheinriesen-Effekt, deckte das Geheimnis des Meeresleuchtens auf und erfand nebenbei das Perpetuum mobile, an dem sich Generationen von Erfindern die Zähne ausgebissen hatten. Und nachdem die zwei Lummerländer die Fesseln der klassischen Mechanik gesprengt hatten, brachte Endes Romanfigur Momo uns auf märchenhafte Art das Wesen der Zeit nahe. Dabei konfrontierte uns Momo mit dem Paradox, dass die Zeit sich unserem Zugriff umso mehr entzieht, je heftiger wir sie zu fassen versuchen. „Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen. Und je mehr die Menschen daran sparten, um so weniger hatten sie.“
Der Wissenschaft geht es nicht viel anders. Seit sie die starre Mechanik des 19. Jahrhunderts überwunden hat, gerät mehr und mehr die Zeit selbst in den Blickpunkt von Forschung und Technik. Mittlerweile lässt sich die Zeit bis auf Attosekunden genau vermessen. Doch seltsam, je mehr sich die Wissenschaft mit dem augenscheinlich so klaren Zeitbegriff beschäftigt, umso rätselhafter scheint er zu werden. Der Physiker Paul Davies etwa hält ein restloses Verständnis der Zeit für „eine der großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“. Denn noch immer sind grundlegende Zeit-Fragen ungelöst. Zum Beispiel: Wie genau begann die Zeit? Wird sie bis in alle Ewigkeiten linear „nach vorne“ verlaufen – oder kehrt sich die Zeitrichtung (zusammen mit der Ausbreitungsrichtung des gesamten Weltalls) irgendwann einmal um? Warum funktionieren die Gleichungen der Physik auch dann, wenn man darin die Zeit rückwärts laufen lässt? Sind Zeitreisen vielleicht doch möglich? Und: Warum unterscheidet sich unser subjektives Zeitempfinden oft so sehr von der starren physikalischen Zeit?
Nicht einmal eine vernünftige Definition des schillernden Begriffes Zeit können wir vorweisen. Selbst Albert Einstein, der 1905 mit seiner Relativitätstheorie das Zeitverständnis revolutionierte, vermied wohlweislich eine genaue Definition der Zeit. Entsprechende Fragen beantwortete er eher lapidar: „Zeit ist, was man an der Uhr abliest.“ Doch was liest man an der Uhr ab? Lediglich eine zyklische, immer wiederkehrende Bewegung. Damit stehen wir vor dem Widerspruch, dass sich zwei Begriffe gegenseitig definieren. Denn so wie wir Zeit durch Bewegung erfassen, messen wir wiederum Bewegung durch die Zeit – egal, ob es sich nun um die Jahreszeiten, die Bewegung der Planeten oder das zehntelsekundengenaue Schwingen eines Quarzkristalls handelt.
Zum Glück machen wir uns im täglichen Leben um solche Spitzfindigkeiten keinen Kopf. Da nehmen wir „die Zeit“ einfach als gegebene Größe hin. Schließlich materialisiert sie sich ja in Form von Termin-, Stunden- oder Fahrplänen und bestimmt ganz handfest den Rhythmus unseres Lebens. Dabei ist, genau betrachtet, das alltägliche Diktat der Uhr letztlich nur eine gesellschaftliche Übereinkunft. Auf einer einsamen Insel, ohne Mitmenschen, verlöre die genaue Uhrzeit jeden Wert. Erst im sozialen Kontakt mit Gleichgesinnten, die dieselbe Zeit anerkennen, wird sie von Bedeutung.
Ganz und gar unabhängig von kulturellen Konventionen und philosophischen Fragen ist nur das Ticken unserer eigenen Lebensuhr. Und die Tatsache, dass wir nie wissen, wann dies endet, erinnert uns an jene Art von Zeit, die für uns wirklich von Bedeutung ist. Das ist jene Zeit, die tatsächlich in unserer Reichweite liegt und streng genommen, die einzige, über die wir verfügen: die Gegenwart. Schließlich findet unser Leben nicht gestern oder morgen statt, sondern immer nur im kurzen, ewigen Moment des Jetzt. Und wie schon Michael Ende wusste: Je mehr die Menschen daran sparen, umso weniger haben sie.
Ulrich Schnabel ist Wissenschaftsredakteur der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT. Soeben erschien sein neues Buch „Muße. Vom Glück des Nichtstuns“ im Blessing Verlag.