Urlaub vom Ich
Alltagsflucht mit der „Kostüm-Zauberei“
Im Reservierungsraum hängt das Engelskostüm gleich neben dem FDJ-Hemd. Dahinter ein Barockkleid. Eineinhalb Etagen voller Kleiderstangen, Regale voller Schuhe, Kisten mit Perücken. In einer Mischung aus Märchenwald und Kleiderkammer lagert Antje Schrader ihre Schätze. Hier passiert die Magie. Wer hier hereinkommt, geht als ein anderer. Dachdecker, Sekretärin und Arzt kommen, Troll, Barockfürstin und Mafioso gehen. Verwandelt vom Scheitel bis zur Sohle.
Kontrollierter Ausbruch aus der Vernunft
3.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung, der Mensch eingehüllt in die Haut eines Tieres, mit dessen Kopfform und seinen Hörnern. Die ältesten dokumentierten Verkleidungen sind in Felszeichnungen festgehalten. Verkleidet haben sich Menschen also schon immer. Ein Kostüm verrät viel: Krankenschwester, Hase, Sensenmann – Experten nennen es den kontrollierten Ausbruch aus der Vernunft. Karneval, Fastnacht, Halloween, Mottopartys – Anlässe, sich zu verkleiden, gibt es genug.
Aber woher kommt die Freude an der Verkleidung? „Es ist mehr als nur eine Alltagsflucht“, erklärt der Soziologe Tilman Allert von der Goethe-Universität Frankfurt in der Zeitschrift „Psychologie heute“: „Wer im Fasching in eine andere Verkleidung oder Maske schlüpft, kultiviert, wenn auch zuweilen umständlich kostümiert, einen Rollentausch, der neue Perspektiven auf die Mitmenschen wie auf das eigene Ich eröffnet.“ Antje Schrader sieht das genauso, bringt es aber wesentlich schneller auf den Punkt: „Alltagsflucht, wir wollen einen Urlaub vom Ich.“
Sie betreibt ihre „Kostüm-Zauberei“ in der Straße Am Studio 20 D in Adlershof. Die Nähe zum Fernsehen ist nicht zufällig, auch wenn Schrader heute zu 90 Prozent Privatkunden ausstattet. Gelernt hat sie ihr Handwerk unter anderem hier in Adlershof. Sie hat Mode studiert und als Kostümbildnerin beim Fernsehen und für den Film gearbeitet. Irgendwann, da war sie im Kostümfundus in Adlershof beschäftigt, fängt sie an, Kostüme „nachzunähen“. Sie merkt, „ich kann das ziemlich gut“. Vor fünf Jahren beginnt sie mit einer kleinen eigenen „Kollektion“, die inzwischen auf mehr als 20.000 Teile angewachsen ist.
Das perfekte Outfit
Auch der Name ist kein Zufall, denn Schrader will ihre Kunden verzaubern, aus dem Alltag reißen. Ein wenig verzaubert wirkt auch sie, wie ein Kind, das sich freut, weil es in der Spielzeugabteilung des Kaufhauses vergessen wurde. „So gehe es jedem, der hierherkommt“, sagt sie. Wohlgeordnet hängen die Kostüme auf Kleiderständern. Erst das Zusammenspiel aller Accessoires ergibt das perfekte Outfit. Bei der Auswahl helfen den „Kostümlaien“ ausgebildete Kostümbildner.
Verkleiden ist mittlerweile ein Volkssport: Allein im Kölner Karneval wurde in der letzten Saison nach einer Untersuchung der Boston Consulting Group ein dreistelliger Millionenbetrag umgesetzt – für Verkleidungen. Sie sind inzwischen so sehr im Alltag angekommen, dass auch Schrader ganzjährig gut zu tun hat. Denn Anlässe und Gelegenheiten gibt es auch außerhalb des Karnevals genug – vom Abiturstreich über Stadt-, Frühlings-, Sommer-, Schloss- oder Mittelalterfeste bis hin zu Mottopartys, historischen Modenschauen oder Firmenweihnachtsfeiern.
Ob Lederhose und Dirndl fürs Oktoberfest oder das Barockkleid für die Schlössernacht – 80 Prozent aller Kostüme näht Antje Schrader selbst. „Das ist in mir drin“, sagt sie, „nähen ist die reine Entspannung.“ 50 Barockkleider hat sie allein im Juli und August genäht, unter anderem weil immer mehr Roben für das Barockfest im Schloss Friedrichsfelde gebraucht werden. 1.000 Euro kann so ein Barockstück in der Herstellung kosten. Dafür „schmeißt“ sie dann einfach Stoffe übereinander, um das perfekte Kostüm zu kreieren.
Zu den Klassikern gehören auch die Roaring Twenties, die 50er-, 60er- und 70er-Jahre mit Beehive-Frisur und grellfarbigem Polyesteranzug für die Disco- und Schlagerpartys oder auch Superhelden und Fantasy-Figuren. Zu leihen sind die Kostüme dann für Preise ab 45 Euro aufwärts.
Von Rico Bigelmann für Adlershof Journal