Wagt den Sprung ins (kalte) Wasser!
Essay von Uli Kunz, Meeresbiologe, Unterwasserfotograf und Terra-X-Moderator
Mein erster Unterwassermoment gehört sicherlich nicht zu den tapfersten in meinem Leben. Nach der Begegnung mit einem furchteinflößenden Hecht im Bodensee habe ich als Achtjähriger schleunigst die Flucht ergriffen und brauchte einige Tage der Erholung, bevor ich in der Badewanne einen weiteren Tauchversuch unternahm: Die Furcht war verflogen. Viel später habe ich dann eine Ausbildung zum Forschungstaucher durchlaufen und an vielen Expeditionen in die Ozeane teilnehmen können.
Angst vor dunklem Wasser und vor tiefen Meeren haben vielleicht sehr viele Menschen. Es ist Zeit, sie abzulegen, damit die gewaltigen Wassermassen uns emotional so nahe sind wie die heimischen Wälder.
Der Ozean ist der bei weitem größte Lebensraum auf unserer Erde. Er ist die Lebensgrundlage eines großen Teils der Weltbevölkerung. Korallenriffe wirken als effektiver Küstenschutz, die Meere regulieren das Klima und sind Heimat von hunderttausenden Tier- und Pflanzenarten. Die Hälfte des Sauerstoffs, den Sie bei jedem Atemzug einatmen, kommt aus dem (gesunden) Meer.
Seit vielen Jahren werden wir Zeugen einer Veränderung, an die sich viele Tiere und Pflanzen nicht anpassen können: Die Erwärmung der Meere zerstört Korallenriffe. Die Versauerung hat Einfluss auf wichtige Kleinstlebewesen im Wasser. Durch die Überfischung verschwinden die gewaltigen Fischschwärme. Noch dazu landen jedes Jahr Millionen Tonnen Plastikmüll in diesem sensiblen Lebensraum.
Wenn wir die großartige Vielfalt und die einzigartigen Lebensräume unter Wasser erhalten und dafür sorgen wollen, dass möglichst viele Arten diesen globalen Wandel überstehen, müssen wir uns in erster Linie selbst verändern und unser Denken und Handeln – sowohl auf privater als auch auf gesellschaftlicher Ebene – auf einen Weg lenken, der einen nachhaltigen Umgang mit dem Ozean ermöglicht.
Dazu muss sich unser Blick auf die Welt verändern, so wie sich der Blick mancher Raumfahrer:innen wandelt, die den Planeten Erde aus dem All gesehen haben. Das Phänomen wird auch als „Overview-Effekt“ bezeichnet und beschreibt Gefühle von Ehrfurcht und emotionalem Verständnis für das Leben auf der Erde. Ich werde nie ins Weltall reisen, aber ich kann sehr gut nachvollziehen, was diese Raumfahrer:innen fühlen. Und sie könnten sicherlich auch mich verstehen, weil sie wissen, dass die Ehrfurcht einen jederzeit überraschen kann, etwa wenn man jagende Orcas beobachtet oder tief in einer Unterwasserhöhle das Licht ausschaltet und eine Dunkelheit erfährt, die vielleicht erst mal irritierend, aber dann doch unbeschreiblich wohltuend ist.
Das große Potenzial der Meere hat auch unsere neue Regierung bemerkt und im Koalitionsvertrag im Absatz „Natürlicher Klimaschutz“ folgenden Satz formuliert: „Die natürliche CO2-Speicherfähigkeit der Meere werden wir durch ein gezieltes Aufbauprogramm verbessern (Seegras-Wiesen, Algenwälder).“ Bravo!
Jeder Sprung ins Wasser und jeder Blick unter die Wasseroberfläche verändert unser Leben. Probieren Sie es aus! Nach dem Auftauchen werden Sie auf eine gewisse Lernerfahrung zurückblicken, Ihre Kapazität zu fühlen wird eine andere sein als vor dem Abtauchen (im Fall von sehr kaltem Wasser kommt auch das Gefühl in den Beinen bald wieder, vertrauen Sie mir).
Je mehr Menschen sich für die winzigen und gewaltigen, für die niedlichen und hässlichen, für die unscheinbaren oder farbenprächtigen Bewohner im Meer interessieren, desto größer wird die Zahl derer, die sich für einen besseren Umgang mit dem Ozean einsetzen.
Der Meeresbiologe Uli Kunz arbeitet als Moderator für die ZDF-Reihe „Terra X“ und hält Vorträge über seine Reisen und Arbeiten als Meeresforscher, Unterwasserfotograf und Naturschützer. Sein aktuelles Buch „Leidenschaft OZEAN“ ist im Knesebeck Verlag erschienen: www.knesebeck-verlag.de/leidenschaft_ozean/t-1/987