Was weiß ich?
Essay von Paulina Czienskowski, Autorin aus Berlin
Wann haben Sie zuletzt etwas gelernt? Einen Gedanken, eine Tätigkeit, einen Fakt. Hätte ich kürzlich kein Kind zur Welt gebracht, ich wüsste es nicht. Wie ein Schwamm sauge ich seither Neues auf. Zum Beispiel, wie sich Milcheinschuss anfühlt oder dass ein Baby mit vier einzelnen Schädelplatten geboren wird, damit es durch den Geburtskanal kommt und das Hirn Platz zum Wachsen hat.
Seit das Kind da ist, ploppen laufend neue Fragezeichen auf. Ich würde behaupten, es ist das erste Mal nach langer Zeit, dass ich häufig Unsicherheiten ausgesetzt bin, die nur durch aktives Lernen gebändigt werden können. Natürlich bleibt mir hier nichts anderes übrig, immerhin muss dieses Wesen überleben.
Am Anfang eines Lebens ist Lernen instinktiv. So lernen Kinder in ihren ersten Lebensjahren rund acht Wörter am Tag. Mit dem Alter wird aus der Notwendigkeit etwas, das ein bewusst gesetztes Interesse voraussetzt. Interessiert zu bleiben, obwohl wir reden, schwimmen, kochen können, scheint, sofern uns etwas nicht betrifft, unüblich. Dabei ist doch genau das der Schlüssel zu ewiger Jugend, nach der so viele streben, oder?
Wer Kinder nah um sich hat, wird sich ungehindert gespiegelt sehen und damit unweigerlich dazulernen. Über die Welt und den eigenen Blick auf sie. Ist dieser womöglich verknöchert, arrogant, veraltet? Von den Anfängen junger Menschen (mit) zu lernen, kann Spaß machen. Und auch ohne sie lohnt es, sich offenzuhalten, die changierende Komplexität in der Welt anzuerkennen und im Denken flexibel zu bleiben.
In einem Essay schreibt die Autorin Susan Sontag, dass die moderne Sehweise der Fotografie davon ausgeht, „dass die Wirklichkeit ihrem Wesen nach grenzenlos und die Erkenntnis ein Prozess mit offenem Ende sei“. Dieses offene Ende sollten wir uns immer wieder bewusst machen, unsere Gesellschaft in Bewegung begreifen und uns selbst stets erneuern. Wenn wir darauf beharren, es besser zu wissen, weil wir das Leben längst durchgespielt haben, werden wir nicht gewinnen, sondern verlieren vor allem Anschluss.
Es herrscht, so scheint es, nicht selten das Missverständnis darüber, dass Erlerntes für immer gültig bleibt. Klar: Wer Radfahren kann, verlernt es nicht. Aber was ist mit Theorien über Sachverhalte, die vor Jahrzehnten aufgestellt wurden, doch im Kontext der Zeitgeschichte mindestens kritisch, wenn nicht gar gefährlich gesehen werden müssten? Dass zum Beispiel große deutsche Denker wie Kant oder Hegel ungehindert rassistische Theorien verbreiten konnten und bis heute unkritisch an Universitäten gelesen werden.
Darüber lässt sich nicht streiten, über das und anderes sollte ohnehin Konsens herrschen. Gerade wenn es um Würde und Leibeswohl von Menschen geht. Auch scheinbar gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse sind nicht in Stein gemeißelt, sondern spiegeln das Wissen zu einem bestimmten Zeitpunkt wider. Verändert sich beispielsweise die Datenlage, bewerten Forschende die Situation neu und korrigieren Fehler. Die wenigsten Dinge stehen so fest in der Welt, dass sie zementiert für immer gelten sollten. Dass Forscher:innen einander widersprechen, ist gar Usus. Anfang des 20. Jahrhunderts konstatierte der französische Physiker Pierre Duhem, dass unendlich viele Theorien zu einer Beobachtung passen würden. Ob es zum Beispiel einen angeborenen Sinn der Quantitäten gibt, wie der Hirnforscher Stanislas Dehaene 1997 ins Gespräch brachte, wird bis heute diskutiert.
Trotzdem lässt sich nachvollziehen, dass, wer Erlerntes dekonstruiert und sich selbst damit auch – weil sich die Welt verändert, Zustände verschieben, Kontexte verfärben –, könnte vorläufig beunruhigt sein, wenn das Bild, das wir uns erarbeitet und fein zurechtgelegt haben, bröckelt. „Was könnte da besser sein“, als einfach Neues dazuzulernen und eine neue vorübergehende Ordnung zu etablieren?
Durch klare Bilder und Ideen, schreibt Sontag, nehme unsere Erfahrung nämlich Form und Gestalt an. Und gerade weil diese nicht für immer haltbar bleiben, lohnt es sich, wachsam und wissbegierig zu sein. Professor Albus Dumbledore sagte zu Harry Potter: „Die Jugend kann nicht wissen, wie das Alter denkt und fühlt, aber alte Menschen machen sich schuldig, wenn sie vergessen, was es hieß, jung zu sein.“
Paulina Czienskowski lebt und arbeitet als Autorin in Berlin, 2021 erschien ihr drittes Buch „Sich erinnern, man selbst zu sein“. Auf Deutschlandfunk Kultur wurde kürzlich ihr Hörspiel mit einem Text aus der Sicht eines Fötus auf dem Weg zur Menschwerdung gesendet, bei dem sie außerdem als Regisseurin debütierte.