Wo Fontane das Wandern einstellte: Die technologische Schweiz
Essay von Matthias Gerschwitz, Buchautor, Kabarettist und Betreiber einer Werbeagentur
Kennen Sie noch die »Mundorgel«? Jenes kleine, rote Heftchen mit einer Sammlung von Liedern, die bei Busreisen, Jugendfreizeiten oder an Lagerfeuern geschmettert wurden? Lieder voller Fernweh und Reiseerlebnissen – mit nicht immer nur positiver Konnotation. »Wenn die bunten Fahnen wehen, geht die Fahrt wohl übers Meer« findet sich dort gleichberechtigt neben »Alle, die mit uns auf Kaperfahrt fahren, müssen Männer mit Bärten sein« oder »Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord«. Niemand fragte nach Klimazielen oder Umweltschutz. Vielleicht hieß die »Mundorgel« bei Ihnen anders, vielleicht war es nur eine Lose-Blatt-Sammlung, vielleicht kannten Sie die Texte auch einfach auswendig. Ja – es gab Zeiten, in denen hatte man Texte noch abrufbereit im Gedächtnis, weil man sie weder abspeichern noch unterwegs schnell mal googeln konnte.
Es waren unbekümmerte Zeiten. Aus den musikalischen Reisen wurden tatsächliche; die Distanz des Urlaubsortes zum heimischen Herd wurde zum Maßstab des Wohlstands und der gesellschaftlichen Anerkennung. Wenn man denn überhaupt reisen konnte. Für einige waren Balaton und Schwarzmeerküste Sehnsuchtsorte – für andere die Chance, günstig Urlaub zu machen. Die Welt zu erobern, galt als höchstes Ziel. Der preußische General Carl von Clausewitz hätte seinen berühmten Spruch umformuliert: »Tourismus ist die Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln.« Als es Teilen der Bevölkerung möglich war, einfach ins Reisebüro zu gehen und eine Fernreise zu buchen, stellten andere Teile der Bevölkerung fest, dass ein Fernreiseziel nichts Besonderes mehr war, sondern Wanne-Eickel mit anderen Vorzeichen.
Dann kam ein Virus und veränderte die Welt. Statt in die USA, auf die Seychellen oder Malediven ging der Blick plötzlich zu Nord- und Ostsee, Schwarzwald oder Erzgebirge. Plötzlich bemerkten viele, dass auch heimische Gefilde eine Entdeckung wert sind. Ich erinnere mich an eine Freundin, die in den 1980er Jahren ihren Urlaub abwechselnd auf allen Kontinenten verbracht hatte, bis sie plötzlich feststellte, dass sie eigentlich unter Flugangst litt. Von da an ging es fast nur noch in die Schweiz. Aber nicht in das Land der Eidgenossen, sondern in die Holsteinische, die Sächsische, die Märkische und die Fränkische Schweiz. Wer es ihr gleichtun will, wird sich wundern: In Deutschland gibt es über 120 Orte, die »Schweiz« heißen. In der Romantik wurde so eine topographisch ansprechend gestaltete Landschaft bezeichnet; dann kam das Marketing und definierte »Schweiz« als schönen und gut organisierten Landstrich. Übrigens: Berlin taucht auch in dieser Aufzählung auf, wenn auch nur mit Kleingarten- oder Villenkolonien.
Schon Theodor Fontane beklagte die Inflation: »Die Schweize werden jetzt immer kleiner, und so gibt es nicht bloß mehr eine Märkische, sondern bereits auch eine Ruppiner Schweiz«, heißt es in seinen »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«. Wanderte er heute, käme er sicher auch in den Berliner Südosten, hielte inne und notierte: »Auf meinem Weg kam ich durch Adlershof. Und dort, wo der König einst Maulbeerbäume pflanzen ließ, wo später Flugzeuge abhoben, Autos gebaut und Filme gedreht wurden, steht heute eine technologische Schweiz. Voller Ideen und Innovationen. Anstatt, dass die Menschen in alle Welt reisen, um sich zu bilden, kommen sie hierher und teilen ihr Wissen. Dies ist ein Ort zum Verweilen.«