Zwischen Dienstleistungsmaschine und Heimat
Anspruch an eine Stadt
Städtische Lebensformen sind von multikultureller Vielfalt, sozialer Heterogenität, ignorierender Toleranz und tolerierender Ignoranz geprägt. Also von Urbanität, städtischer Lebensart, die sich von der Lebensweise auf dem Land unterscheidet. Ein Blick in die Geschichte verrät, dass unter „urban“ zunächst eine verfeinerte, gebildete, weltgewandte Lebensweise verstanden wurde.
Der heutige Diskurs über Inhalt und Begriff von „Urbanität“ in Deutschland begann Anfang der 1960er-Jahre. Hintergrund war damals die beginnende Kritik an den baulich-räumlichen und stadtkulturellen Resultaten der Wiederaufbauzeit. Viele neu entstandene Siedlungen an der Stadtperipherie wurden zum Synonym für Monotonie und Trostlosigkeit. Außerdem wurde deutlich, dass das damals favorisierte städtebauliche Leitbild der gegliederten und aufgelockerten Stadt, also die Trennung von Arbeits- und Wohnstätten, Probleme mit Verkehr, Lärm und Luftverunreinigungen verursachten und zur Verödung der Innenstädte führte. Urbanität wurde so „wiederentdeckt“ als die „eigentlich städtische Kultur“ mit der Pflicht des Bürgers, am Geschehen in der Stadt Anteil zu nehmen. Der Begriff wurde zum bis heute schillernden Zauberwort, interpretiert als „Missing Link“ zwischen Architektur und Städtebau auf der einen Seite und städtischer Gesellschaft auf der anderen Seite.
Der Verlust von Spontaneität und Vielfalt des städtischen Lebens führte in den 1960er-Jahren zunehmend zum Ruf nach „Verdichtung und Verflechtung“. Die Idee der Fußläufigkeit als Idealkonzept für Stadtentwicklung gewann an Bedeutung und wird im Gegenentwurf zur „autogerechten Stadt“ immer populärer. In der Debatte um die „Neue Urbanität“ rücken in den 1970er-Jahren soziale, ökonomische und ökologische Probleme der Städte immer mehr in den Fokus. Der wirtschaftliche Strukturwandel, die De-industrialisierung und die Chancen städtischer Schrumpfungsprozesse sorgen für andere Perspektiven bei Bürgern und Stadtplanern.
Heute ist „Urbanität“ Bestandteil einer umfassenden Diskussion über „Stadt an sich“. Dieser Diskurs berührt neben Architektur und Städtebau immer auch Fragen der sozialen Gerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit. Die Stadt ist Dienstleistungsmaschine und Heimat zugleich. Die Überwindung sozialer Ungleichheit, politische Partizipation, Multikultur und die Akzeptanz der Stadt als „Ort der Widersprüche“ bleibt programmatisch. Verwirklichte soziale Gleichheit, durchgesetzte Demokratie, Versöhnung mit Natur, gleichberechtigtes Nebeneinander verschiedener Kulturen, ein gemildertes Zeitregime im Alltag, Vergegenwärtigung der Geschichte und das Offenhalten von Widersprüchen sind zwar weitreichende utopische Ansprüche. Aber auch der historische Begriff von Urbanität hat die Vision einer liberalen Gesellschaft ökonomisch selbstständiger, politisch gleicher, zivilisierter Individuen enthalten. Die Diskussion um Urbanität sollte diese utopische Perspektive nicht aus den Augen und vor allem aus dem Geist verlieren.
Die Soziologin Christine Hannemann ist Professorin an der Universität Stuttgart und leitet das Fachgebiet „Architektur- und Wohnsoziologie“. Sie ist Mitherausgeberin des „Jahrbuchs StadtRegion“ und der „Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung“.