Die Attosekundenforscherin
Olga Smirnova beobachtet ultraschnelle Bewegungen kleinster Teilchen
Zu Hause in Moskau war es das Regal mit der Fachliteratur der Mutter, das es ihr angetan hatte. Sie bediente sich heimlich daraus, weil sie annahm, Mama, die Physikerin, könnte die Lektüre für eine Fünfjährige womöglich ungeeignet finden und verbieten. Sie lernte hier in den Kindheitsjahren eine mysteriöse Wunderwelt kennen, das Universum der Atome. Die Vorstellung, wie winzige Teilchen in winzigen Räumen umeinander flitzen, behielt ihre lebenslange Faszination.
Heute leitet Olga Smirnova eine Arbeitsgruppe am Max-Born-Institut für Nichtlineare Optik und Kurzzeitspektroskopie (MBI), die sich mit Methoden beschäftigt, um Bewegungen von Elektronen in Attosekundengeschwindigkeit zu beobachten und abzubilden. Eine Attosekunde umfasst den Zeitraum einer Trillionstel Sekunde. Von Moskau über Wien und Ottawa nach Adlershof, getrieben von Begeisterung für die Wissenschaft: „Ich habe Glück gehabt auf meinem Berufsweg“, sagt Smirnova. „Die Göttin der Physik hat es gut mit mir gemeint.“
Smirnova war 18, als 1991 die Sowjetunion kollabierte. Sie erinnert sich, mit welchen Erwartungen sie Michail Gorbatschows Reformpolitik begleitet hatte: „Wir haben wirklich, wirklich gehofft, in einem neuen Russland zu leben.“ Die Physikstudentin an der Moskauer Universität ahnte dann bereits, dass sie im Russland Boris Jelzins keine Zukunft hatte. Zwar gab es noch immer einst unerhörte Freiheiten zu genießen. Doch im Wirtschaftschaos jener Jahre war an produktive Forschung nicht zu denken. Das war der eine Grund, der Smirnova westwärts streben ließ. Der andere hieß, als die Jelzin-Ära vorbei war, Wladimir Putin: „Jedem denkenden Menschen war klar: Das wird ein Desaster.“
Es war die Technische Universität in Wien, die Smirnova 2003 die Gelegenheit bot, ihrer Leidenschaft für kleinste Teilchen und kleinste Zeitspannen zu folgen. Die Attosekundenwissenschaft war erst kurz zuvor um die Jahrtausendwende entstanden: „Ich hatte extrem viel Glück, mich auf ein Forschungsfeld zu stürzen, das superjung war.“ Weiter ging es 2005 nach Kanada, wo Smirnova Physikerkolleg:innen begegnete, „mit denen ich bis heute zusammenarbeite“. Eine „phantastische Schule“ sei das gewesen. Indes, die Sehnsucht nach Europa behielt nach vier Jahren die Oberhand. Auch habe ihr „russisches Gespür“ für nahendes Unheil geahnt, dass Grundlagenforschung in Kanada bald nicht mehr gefragt sei. Der damalige Direktor des Max-Born-Instituts Wolfgang Sandner ebnete ihr den Weg nach Adlershof.
In der Welt der Attosekundenexpert:innen ist Smirnova mittlerweile eine international gefragte Forscherin. Mit Mann und Sohn lebt sie in Berlin, wo sie seit 2016 auch einen Lehrstuhl für Theoretische Physik an der Technischen Universität Berlin innehat. In ihrem russischen Freundeskreis schätzt sie den Austausch mit Künstler:innen, Intellektuellen, „unabhängigen“ Geistern. Putins Krieg erlebt sie trotz ihres deutschen Passes als persönliches Unglück: „Schmerz und Scham werden bis an mein Lebensende nicht vergehen.“
Dr. Winfried Dolderer für Adlershof Journal