Die Grenzflächenexpertin
Claudia Draxl forscht an neuen Materialien
Das erste Mal hat der Zufall sie nach Berlin geführt, „vor vielen, vielen Jahren“, sagt Claudia Draxl. Die Aeroflot-Maschine von Leningrad nach Moskau hatte sich verspätet, das Visum für die Sowjetunion lief ab, so landete sie mit Interflug in Schönefeld. Der Umweg bescherte ihr eine Nacht und einen Tag in der damaligen Hauptstadt der DDR. Was tun? Natürlich ins Taxi und zum Pergamon-Museum. „Es war unglaublich“, sagt Draxl, „ich war auf nichts vorbereitet“ – und fand sich unversehens vor dem Ischtar-Tor: „Ich dachte, das war die Gelegenheit meines Lebens, das sehe ich nie wieder.“
Legokasten aus Atomen
Heute könnte die gebürtige Österreicherin jeden Tag zum Ischtar-Tor, wenn denn Lehre und Forschung in Adlershof Zeit dafür ließen. Seit November 2011 ist Draxl Professorin für Theoretische Physik an der Humboldt-Universität und untersucht mit rund 20 Mitarbeitern Grundlagen für die Entwicklung neuer Werkstoffe: „Stellen Sie sich einen Legokasten vor, nur dass die Bausteine Atome sind.“ Atome, Moleküle, Nanostrukturen – Forschung in der Welt des unvorstellbar Kleinen.
Multikulti in der Physik?
Die Anschubfinanzierung kam von der Einstein-Stiftung, eine Million für einen Großrechner, den die Forschergruppe mit Ideen und Fragen füttert: Welche Eigenschaften muss ein Material besitzen, um zum Beispiel möglichst viel Licht zu absorbieren? „Will“ ein bestimmtes Molekül sich auf eine bestimmte Fläche setzen? Spannend ist, was sich an den „Grenzflächen“ tut, wo Schichten aus unterschiedlichen Stoffen einander berühren: „Das ist ähnlich, wie wenn Kulturen zusammenkommen.“ Wie zur Zeit Alexanders des Großen aus der Mischung von griechischer und persischer Zivilisation etwas bisher nie Dagewesenes, der Hellenismus, entstand, so etwa darf der Laie sich die Komposition von „Hybridmateralien“ mit bisher unbekannten Eigenschaften vorstellen. Multikulti in der Physik? Draxl lächelt amüsiert.
Musik als Hobby
Ihr sind grenzüberschreitende Erfahrungen ja nicht fremd. Aufgewachsen ist sie in Villach, am Berührungspunkt der drei großen europäischen Sprachfamilien, hier vertreten durch das Deutsche, Italienische und Slowenische. „Bis zum letzten Augenblick“ offen war für die Abiturientin die Wahl des Studienfaches. Mathematik? Physik? Oder Musik? Grenzüberschreitende Neigungen auch hier. Sie hätte sich eine Laufbahn als Flötistin vorstellen können, hatte die Aufnahmeprüfung an der Wiener Musikhochschule schon bestanden. Entschied sich aber doch „kurzfristig“, stattdessen in Graz zu studieren – und damit für die Musik als Hobby: Seit drei Jahren versucht sich Draxl am Saxophon.
Mit dem Auto ist sie bis in den Iran gelangt, hat die Seidenstraßen-Städte Buchara und Samarkand gesehen, war in Nordafrika und in der antiken syrischen Oasenmetropole Palmyra. Lange her. Jetzt also Berlin: „Eine tolle Stadt“, schwärmt sie. „Die Museen sind unglaublich.“ Und, „ganz wichtig“, es gibt hier viel Grün. Nicht zuletzt zwischen Wald und Seen in Köpenick, wo sie seit zwei Jahren lebt.
Von Winfried Dolderer für Adlershof Journal