Elite
Zur Renaissance einer alten Idee
Platon, der gewöhnlich als Vater elitären Denkens gilt, hat die Frage „Wer soll regieren?“ klar beantwortet: Die Besten sollen regieren, und die Besten sind die Weisen. Sein Votum für eine Herrschaft der Philosophen entsprang einem tiefen, an den Erfahrungen von Sokrates’ gewaltsamem Tod durch das Votum der Athener Bürgerschaft geschulten Affekt gegen die Demokratie. Dem Volk traut Platon, wie er in seinem berühmten Höhlengleichnis ausführt, kein kompetentes Urteil zu. Im Höhlengleichnis bietet Platon eine frühe Legitimation politischer Führung durch eine verantwortliche Leistungselite. Neben ihrem exzeptionellen Führungswissen darum, wie der Staat aufs Beste bestellt und geführt werden muss, prädestiniert die Philosophen ihre charakterlich vorbildliche, den Versuchungen der Macht widerstrebende und dem Gemeinwohl verpflichtete Lebensweise zur Lenkung des Staates.
Masse zur Selbstregierung nicht fähig Im Unterschied zu dieser alten Idee einer Wissens- und Wertattribute verbindenden Leistungselite wollten die Begründer des sozialwissenschaftlichen Elitebegriffs Gaetano Mosca und Vilfredo Pareto jede Normativität vermeiden. In ihrem Affekt gegen die Demokratie stimmen sie jedoch mit Platon überein. Der von diesen modernen Klassikern um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert geprägte Elitebegriff ist der polemische Gegenbegriff zur demokratischen Massengesellschaft: Die Elite führt die Masse und diese lässt sich führen, weil sie zur viel beschworenen Selbstregierung gar nicht fähig ist.
Gewaltaffin wie ein Löwe & klug wie ein Fuchs Mosca und Pareto teilen überdies Platons Einschätzung über die korrumpierenden Effekte politischer Macht. Sie setzen jedoch nicht auf eine charakterlich vorbildliche Führungselite, sondern im Anschluss an den Florentiner Politikberater Niccolò Machiavelli auf die Herrschaft einer machtbewussten Minderheit. Danach muss eine stabile Machtelite gewaltaffin sein wie ein Löwe, also bereit sein, ihre Machtposition mit Gewalt zu verteidigen, und sie muss zugleich listig und klug sein wie ein Fuchs. Zu dieser Klugheit gehört nicht zuletzt die Einsicht, im Interesse des Machterhalts rechtzeitig für eine Auffrischung „von unten“ zu sorgen. Findet dieser Selbsterneuerungsprozess nicht statt, kommt es zu einem abrupten Wechsel der Eliten, was freilich für Mosca und Pareto grundsätzlich nichts daran ändert, dass Minderheiten über Mehrheiten herrschen.
Für die funktionalistische und pluralistische Elitentheorie, wie sie sich vor dem Hintergrund des demokratisch etablierten Konsenses nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt, waren die tendenziell antidemokratischen Überlegungen der modernen Klassiker nicht mehr anschlussfähig. Denn nun ging es um die Frage, wie demokratische Eliten möglich sind. Eine argumentative Brücke zwischen „Elite“ und „Demokratie“ bot Joseph Schumpeters normativ ausgedünntes Modell der wettbewerblichen Eliten-Demokratie. Die Demokratie wird hier nicht als „Volksherrschaft“ begriffen, sondern als ein Verfahren zur wettbewerblichen Auslese der Eliten.
Aktueller öffentlicher Elitendiskurs Eine auf diese Weise funktionierende Demokratie garantiert, dass immer die besten Leader ausgewählt werden und die beste Elite am besten regiert. Damit ist nicht nur die Verträglichkeit von Elite und Demokratie, sondern mehr noch die Wünschbarkeit und der Nutzen einer Elite für die Demokratie gegeben. Der wettbewerbliche Leistungsgedanke wurde zum Kern eines demokratischen Elitekonzeptes, das sich über den politischen Bereich hinaus auf Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur übertragen ließ und als entnormativierter Funktionselitenbegriff sozialwissenschaftlich Karriere gemacht hat. Der aktuelle, um die Jahrtausendwende anhebende öffentliche Elitendiskurs, der vornehmlich im Gewand der Kritik an der „alten“ bundesdeutschen „Führungskräftegesellschaft“ auf die „Produktion“ neuer, besserer Eliten abstellt, verweist jedoch darauf, dass das, was der formalisierte Funktionselitenansatz so erfolgreich suspendiert hatte, wiederkehrt: Auf die Bühne der öffentlichen Aufmerksamkeit tritt die alte Idee einer mit Führungs- und Sozialkompetenz ausgestatteten Leistungselite.
Dr. Grit Straßenberger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin.