Schmerzensreiche Sprache
Habt Geduld miteinander
„Mein Rücken schmerzt“, sage ich und weil man uns ehrenamtlichen Lehrerinnen von Anfang an erklärt hat, wir sollten mit unseren Schülern deutlich sprechen und langsam, dehne ich die Worte, so gut ich kann: „Mein Rücken sch-m-e-r-z-t.“ Es ist erstaunlich, was Zunge, Lippen und Atemluft bei diesem kurzen Wort zustande bringen. „Mein Bauch sch-m-e-r-z-t“, sage ich, halte mir den Bauch und verziehe das Gesicht, als hätte ich Krämpfe. Mir fehlt nichts, aber unsere Schüler sind erst seit ein paar Monaten in Berlin, sie kommen aus Aleppo und Damaskus und manche von ihnen lernen zum ersten Mal in ihrem Leben eine Fremdsprache. Wie geht es Ihnen? Wie viel Uhr ist es? Wo wohnst Du? So haben wir angefangen. Nun spielen wir Arzt. Meine Schülerin Rania sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Sch-m-e-r-z-t?“, wiederholt sie und kann nicht glauben, dass dieses Wort tatsächlich ein richtiges Wort sein soll. Sie schaut mich durch ihre großen Brillengläser an und sagt auf Arabisch, wenn das so sei, dann werde ihr nie etwas schmerzen. Wer solle das denn aussprechen? Ich verstehe kein Arabisch, aber bestimmt hat sie genau das gesagt, so empört blickt sie mich an. „Sch-m-e-r-z-t“, sagt sie noch einmal überdeutlich, springt vom „r“ aufs „z“, vom „z“ aufs „t“ und tupft sich hinterher mit einem Taschentuch die Lippen trocken, dabei gibt es da gar nichts zu trocknen. Ahmed, neben ihr, fängt an zu prusten.
Mit einem Mal kommen mir Zweifel. Wann habe ich jemals gesagt, dass mein Bauch schmerzt? Sagt man nicht, ich habe Bauchschmerzen oder mir tut der Bauch weh? „Tut weh“, sage ich, „das kann man auch sagen.“ Rania schüttelt langsam den Kopf, wie über ein Kind, das schon wieder auf die Spülmaschine geklettert ist, um Smarties aus dem Küchenschrank zu stibitzen. Entschuldigend öffne ich die Hände. Ich kann nichts dafür, dass Deutsch klingt, wie es klingt: spitz und eckig und zischend. Eben noch haben wir das „ch“ geübt, in „Bauch“ klingt es zwar wie in „Dach“, aber nicht wie in „Licht“, einmal sitzt es im Rachen und dann wieder im Mund. Rania macht eine Geste mit der Hand, als wolle sie sagen, diese Sprache macht mich wahnsinnig. Arabisch ist auch nicht leicht, denke ich, schon tätschelt sie mir den Arm und schiebt das Arbeitsheft ein Stück näher zu mir heran. Ist schon gut, komm, wir machen doch nur Spaß, heißt das. Wir brauchen keine Worte. Unsere Gesichter, unsere Hände, unsere Stimme sind allemal genug, um einander zu verstehen.
„Okay“, sage ich. „Okay“, wiederholt Rania. „Okay“, sagen Ahmed und Mohamad gleichzeitig. Ich zeige auf die Zeichnungen im Heft, damit nicht die ganze Gruppe denkt, sie müsse der Reihe nach „okay“ sagen: eine Salbentube, eine Flasche Hustensaft, Tabletten, Pflaster. Ich lese die Wörter vor, Ahmed spricht sie nach. Mit arabischen Buchstaben notiert er sich die Aussprache. „Flaster? Richtig?“, fragt er. „Pf“, mache ich, „das Pf-laster“ und muss schon losprusten, bevor Rania die Augen rollt. Ahmed, Mohamad und die anderen lachen mit. Ich lege den Kopf in die Hände. Ahmed schubst mich an und hält mir sein Handy vors Gesicht. „Frustriert?“, steht da auf Deutsch. Google hat die Frage für ihn übersetzt. „Geduld!“, schreibt er. Die brauchen wir wirklich, die Schüler mit mir, ich mit ihnen und wir gemeinsam mit dem Deutschen. Und Toleranz, will ich sagen, lasse es dann aber bleiben. Noch ein Wort mit „z“ vertragen wir in der heutigen Stunde alle nicht mehr.
Dilek Güngör ist Journalistin und Autorin. Ehrenamtlich engagiert sie sich im Verein Flüchtlingspaten Syrien e. V., Berlin.