Slam krönt Klügste Nacht
Lernen über den Umweg des Zwerchfells
Erstaunlich dieses Adlershofer Nachtleben: Zu weit vorgerückter Stunde schieben sich Pulks mit bunten Luftballons und reichlich Kindern durch die Straßen. Die Masse pilgert zum Autohaus. Was ist denn hier los? – Es geht ums Dessert!
Die funkelnden Limousinen und edlen Cabrios sind heute Nacht Außenseiter. Ihr bunter Lack geht im menschlichen Farbenmeer der gut 500 großen und kleinen Besucher auf, die im futuristisch anmutenden Verkaufsraum des Audi Zentrums Adlershof auf bunten Kissen, Sonnenstühlen und teils auch einfach auf dem Boden lümmeln. Satt von aufgesogenem Wissen dösen sie dem Dessert der „Klügsten Nacht“ entgegen: Science Slam ist angesagt.
Die angekündigten Slammer lassen auf sich warten. Die Uhr tickt Richtung Mitternacht. Der Schlaf würde fette Beute machen, wäre der Raum nicht so grell erleuchtet. Endlich regt es sich auf der verwaisten Bühne. Ein Ruck geht durch die müde Menge. Applaus. Vorgeplänkel. Regelkunde. Übergabe eines nackten Quietsche-Huhns. Quietscht es einmal: Gelbe Karte. Hört es nicht auf zu quietschen, muss der Slammer vom Platz. Exakt zehn Minuten haben sie, um über den Umweg des Zwerchfells in ihre Forschung einzuführen.
Störstellen im Kristallgitter
Kein Geringerer als der amtierende Deutsche Science-Slam-Meister eröffnet den Reigen. Reinhard Remfort. Bärtig. Brille. Hängende Jeans. Obligatorisch mit PowerPoint und Flasche Bier. Sein Diamanttattoo weist direkt ins Thema: Störstellen im Kristallgitter. „Mutti hätte es lieber gesehen, dass ich Arzt werde“, sagt Remfort. Es habe dann nur zum Physiker gereicht.
Laser statt Bräute
„Sind Physiker hier? Ja. Interessant. Und jetzt nur die Physikerinnen: – .“ Kein Arm hebt sich. Remfort hat seine erste Pointe: „Seht ihr! Das ist die traurige Geschichte meines Lebens.“ Laser statt Bräute. Bier statt weiße Kittel und Topgehalt. Es folgt ein Crashkurs Quantenphysik, der über Max Planck und tote Kätzchen zu einer perfekten Ausrede für besoffene Autorennen in der Fußgängerzone führt. Remfort folgt bei alledem dem roten Faden seiner Präsentation zur „Epitaxie hochreiner Diamantschichten zur Untersuchung oberflächennaher NV-Störstellen“ – und hat die Lacher auf seiner Seite.
Wer den Tod scheut, sollte dem Sex frönen
Sein härtester Konkurrent am heutigen Abend hat geschafft, wovon Remforts Mutti träumte. Johannes Hinrich von Borstel trägt im Alltag den weißen Kittel. Der Marburger Humanmediziner referiert über den „unchristlichen Weg zu (fast) ewigem Leben“. Seine Forschung dreht sich um Arteriosklerose – also die Hauptursache für Herzinfarkte und Schlaganfälle. Seine Botschaft: Wer den Tod scheut, sollte dem Sex frönen. Was wohl Remforts Mutti dazu sagt? Besser fände die bestimmt, dass der Marburger nicht nur Menschenleben, sondern auch das Wohlergehen seiner Labormäuse im Sinn hat. Doch diese Sache mit Josef R. dürfte wieder Minuspunkte geben: Von Borstel zieht den Patienten als Beleg für seine Sex-These heran. Besagter Josef R. pflege ein zölibatäres Leben, was neben deutlich sichtbaren Wassereinlagerungen in der Haut zu multiplen Identitäten (u. a. nenne er sich Benedikt) und religiösen Wahnvorstellungen geführt habe, diagnostiziert der Mediziner. Mit trocken vorgebrachten neurologischen und psychiatrischen Befunden hat er die Lacher auf seiner Seite.
Doch als am Ende per „Applausometer“ der Sieger des Slams ermittelt wird, erfährt Remforts Mutti späte Satisfaktion. Ihr Sohn setzt sich mit einigen Dezibel Vorsprung gegen den gotteslästerlichen Mediziner durch.
Hochschule pusht Teilnahme an Science-Slams
Auf die Frage, ob er mit seinen U-Vorträgen zuweilen bei E-Wissenschaftlern aneckt, reagiert von Borstel müde lächelnd: „Zwar hört man immer wieder von Slammern, dass ihre Professoren das nicht gerne sehen. Doch bei mir ist eher das Gegenteil der Fall. Die Hochschule pusht meine Teilnahme an Science-Slams.“ Er selbst sieht Slams als Wissenschaftskommunikation, die neue Zielgruppen anspricht. „Ist doch gut, wenn die Leute was lernen und Spaß dabei haben“, sagt er.
Lernen und Spaß dabei haben
Der Slammer zieht damit ungewollt ein Bombenfazit für diese launische „Klügste Nacht“. Es ist weit, weit nach Mitternacht, als eine letzte Karawane mit Kindern und Luftballons durch die Adlershofer Straßen Richtung S-Bahn pilgert. Ein Grüppchen debattiert noch angeregt. „Der letzte Vortrag war mathematisch verschlüsselt. Irgendwie“, referiert ein hörbar angetrunkener Schlacks. „Musst du doch verstehen. Du hast doch mal Mathematik studiert“, erwidert seine Begleiterin. „Deshalb hab ich aufgehört. Die reden da alle so verschlüsselt“.
Mit diesem denkwürdigen Stück Wissenschaftskommunikation geht sie dann endgültig zu Ende – die Klügste Nacht des Jahres in Adlershof.
Von Peter Trechow für Adlershof Journal