Vom Ursprung und Werden der Welt
Die Physikerin Cigdem Issever ist von Oxford an die HU Berlin gekommen
Was ist Dunkle Materie? Wie bekommt Materie überhaupt ihre Masse? Antworten auf diese Fragen sucht die Physikerin Cigdem Issever – seit diesem Sommer an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) und am Forschungszentrum DESY in Zeuthen. Damit will sie auch die Hochenergiephysik im Osten Deutschlands stärken.
Rund 27 Prozent der Materie und Energie des Universums bestehen aus sogenannter Dunkler Materie und 68 Prozent aus Dunkler Energie. Die „normale“ Materie, aus der wir und die Galaxien und unser Sonnensystem bestehen, entspricht nur fünf Prozent des Materie- und Energieinhaltes des Universums. Darauf deuten unter anderem kosmologische Experimente, Beobachtungen der Rotationsgeschwindigkeiten von Galaxien und Sonnensystemen hin. Erkenntnisse über die Dunkle Materie sollen Experimente zum Beispiel am Large Hadron Collider (LHC) des Cern in Genf bringen. Hier forscht Cigdem Issever seit 2004: „Das ist eine großartige Maschine. Wenn ich dort arbeite, komme ich mir vor, als würden wir jeden Tag eine Mondlandung durchführen“, schwärmt die Elementarteilchenphysikerin. Bis August war sie Professorin an der University of Oxford, nun wird sie – zusätzlich gefördert durch einen 2,3 Millionen Euro schweren ERC Advanced Grant der Europäischen Union – ihre Forschung in Berlin und Brandenburg fortsetzen, basierend auch weiterhin auf den Experimenten am LHC.
Werden in dem Teilchenbeschleuniger Protonen aufeinander geschossen, entstehen unvorstellbar große Energiedichten, wie sie winzige Sekundenbruchteile nach dem Urknall geherrscht haben. Dabei entstehen viele neue Teilchen und Zustände, möglicherweise auch Dunkle Materie, die wieder in normale Materie zerfallen kann. All diese Ereignisse werden von hochspezialisierten Detektoren gemessen. In den Messsignalen sucht Issever nach Besonderheiten, die sich durch bekanntes Verhalten gewöhnlicher Materie nicht erklären lassen und so ein Hinweis auf Dunkle Materie sein könnten. Eine Spurensuche der besonderen Art, deren Methoden die Physikerin am DESY in Zeuthen unter anderem mithilfe von Machine-Learning-Technologien immer weiter verfeinern will.
Ähnliche Ansätze verfolgt Issever auch mit ihrer Arbeitsgruppe an der HU, wo sie sich der Erforschung des Higgs-Teilchens widmet. Seit seiner spektakulären Entdeckung am LHC im Jahre 2012 ist experimentell nachgewiesen, dass Elementarteilchen ihre Masse durch Wechselwirkung mit dem sogenannten Higgs-Feld bekommen. Wie das genau aussieht, gilt es nun zu vermessen. Hierfür wird Issever Proton-Proton-Kollisionen untersuchen, in denen zwei Higgs-Bosonen gleichzeitig erzeugt werden. Dieser besondere Prozess ermöglicht es, die Form des Higgs-Feldes, das für den Massenerzeugungsmechanismus in der Natur ausschlaggebend ist, experimentell auszumessen. „Der LHC ist wie eine Zeitmaschine, mit der wir Materiezustände, Kräfte in der Natur, den Zustand des Vakuums und der Raumzeit erforschen können, wie sie kurz nach dem Urknall existierten. Damit versuchen wir zu verstehen, warum sich das Universum wie entwickelt hat. Auf diese Weise verknüpft uns die Teilchenphysik mit unserem Beginn, und das macht sie so faszinierend und inspirierend für mich.“
Die Frage nach dem „Warum“ hat Cigdem Issever schon als Kind umgetrieben, befördert von Eltern, die als Lehrer aus der Türkei eingewandert waren und für die Fragen, kritisches Hinterfragen und Wissen einen hohen Stellenwert hatten. Die Entscheidung für ein Studium der Physik fiel dann, „weil sie am fundamentalsten von allen Naturwissenschaften ist.“ Dabei spielte auch der Physiklehrer eine wichtige Rolle, der ihren Drang nach Erkenntnis immer unterstützt und herausgefordert hat.
Weil sie um die Bedeutung der Schule weiß, engagierte sie sich in Oxford auch dort, „und zwar gezielt in Grundschulen, denn man muss die Kinder früh interessieren.“ Zusammen mit Mittel- und Oberstufenschülern entstand darüber hinaus in Minecraft ein 3D-Modell des LHC und ihres Experimentes ATLAS. Das kann man aus dem Internet herunterladen und sich dann in der virtuellen Umgebung des Beschleunigers bewegen und über die Experimente dort lernen. Diese Projekte möchte Issever auch in Berlin und Brandenburg fortführen.
Wenn Cigdem Issever über ihre Forschung spricht, ist das auch ein leidenschaftliches Plädoyer für die Freiheit der Grundlagenforschung. Die sieht sie vor allem im angelsächsischen Raum durch immer mehr Förderprogramme bedroht, die nur vermeintlich nützliche Ideen unterstützen. Doch es brauche gerade diese Spielwiese, die Möglichkeit, losgelöst von der Frage „Wozu ist das gut?“ forschen zu können, damit wirklich Neues entstehen kann: „Die Geschichte hat gezeigt, dass Grundlagenforschung immer revolutionäre Entwicklungen hervorgebracht hat – wenn die Gesellschaften dafür offen waren.“ Das World Wide Web, die Glühbirne, der Laser, Methoden zur Datenverarbeitung oder Krebsbekämpfung sind bekannte Beispiele dafür. Und darüber hinaus müsse es auch den Raum geben für die schlichte Suche nach Erkenntnis, die ein Grundbedürfnis aller Menschen ist.
Von Dr. Uta Deffke für Adlershof Journal