Mensch muss laufen
Mitte Mai 2012, Thüringen: Ein steiler Anstieg, knapp einen Kilometer lang, neunzig Meter Höhenunterschied, zehn Prozent Steigung. Der Berg geht schmerzhaft in die Beine, lässt den Atem immer kürzer werden. All das so kurz vor dem Ziel des Marathons über den Rennsteig, der mit seinen reichlichen 43 Kilometern sogar noch ein wenig länger ist als die klassische Distanz.
Die Marathonzeit wird vor dem Schlussanstieg gemessen, nach 42,195 Kilometern, wie es sich gehört. Dann noch diese Schikane. Frauen und Männer keuchen und ächzen den Hang zum Stadion hinauf. 2.695 Läufer erreichen das Ziel und fühlen sich in diesem Augenblick nach stundenlangem strapaziösem Querfeldein einfach nur glücklich. Am schlimmsten sind meist die letzten zehn Kilometer. Dann hat der Körper schon irgendwie aufgegeben, es obliegt nun dem Geist, den Rest zu schaffen. Zehn Kilometer Qual mit 32 Kilometern Anlauf.
Längst prägt das sportliche Laufen unser Alltagsbild und wird kaum noch eines besonderen Blickes gewürdigt. Dabei ist das „Jogging“, wie es im Englischen heißt, erst seit fünfzig Jahren verbreitet. 1961 wurde der erste derartige Klub gegründet, von Arthur Lydiard, einem neuseeländischen Trainer, der 1960 in Rom zwei seiner Athleten sensationell zu olympischen Goldmedaillen geführt hatte.
Freizeitläufer in der Stadt? Die wurden damals argwöhnisch beäugt wie Exhibitionisten, soll der Gründer des Berlin-Marathons, Horst Milde einmal gesagt haben. In der Tat war es seinerzeit unvorstellbar, einen Marathonlauf quer durch die Stadt zu veranstalten, an dem nicht nur ein paar austrainierte Spitzensportler, sondern auch Tausende von Freizeitläufern aller Generationen an den Start gehen und ins Ziel kommen.
Laufen ist eine der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen. Statistiken sprechen von rund 20 Millionen Deutschen, die regelmäßig durch Stadt und Land traben. Viele von ihnen treten bei Volksläufen an, 2008 wurden dort erstmals mehr als zwei Millionen Teilnehmer gezählt. Die Strecken reichen von zehn Kilometern bis zur Marathon-Distanz.
Was treibt die passionierten Läufer an? Fast alle wollen ihr Wohlbefinden verbessern und die Leistungsfähigkeit steigern, jung und aktiv bleiben. Häufige Motive sind aber auch Stressabbau, geistige und seelische Entspannung. Bewegung als ausgleichender Gegensatz zum Sitzen im beruflichen Alltag wird als Labsal für Körper und Geist empfunden.
Frauen laufen kaum weniger als Männer. Auch diese Tatsache ist eine Tendenz der letzten zwanzig, dreißig Jahre. Noch 1959 behauptete ein namhafter Sportmediziner, Langstreckenlauf sei für eine Frau völlig unangebracht. Bis 1984 ging der längste Lauf für Frauen bei den olympischen Leichtathletikwettkämpfen über 1.500 Meter. Seither sind alle Schranken gefallen: Fast 150.000 Frauen beenden in Deutschland in jedem Jahr mindestens einen Marathon. Laufen ist kein Trend, es ist für viele ein Stück des Lebens geworden. Dafür opfern sie viel Zeit. Schließlich erfordert das Joggen nicht nur Ausdauer im Sinne eines langen Atems, es dauert auch seine Zeit, ehe man zehn, zwanzig oder noch mehr Kilometer gelaufen ist. Doch, ist das wirklich ein Opfer? Kaum ein Läufer sieht das so und wird stattdessen all die positiven Effekte ins Feld führen, die ihm der Sport bringt. Ausdrücklich eingeschlossen Lust und Vergnügen, die der gelegentlichen Qual innewohnen. „Die Erinnerung überstandener Schmerzen ist Vergnügen.“ Das schrieb kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe.
Noch einen großen Vorzug bietet der Laufsport. Es geht fast überall, in Straßen, durch Parks, Wälder und über Felder. Wer in einer großen und grünen Stadt wie Berlin lebt, findet allemal das richtige Terrain, zum Beispiel den ausgedehnten Landschaftspark zwischen Adlershof und Johannisthal. Morgens vor der Arbeit, zum Feierabend, am Wochenende drehen Freizeitläufer ihre Runden. Aus so manch blutigem Anfänger ist inzwischen ein Enthusiast geworden. Die tschechische Lauflegende Emil Zatopek, mehrfacher Olympiasieger, hat einmal gesagt: „Vogel muss fliegen, Fisch muss schwimmen, Mensch muss laufen.“
Harry Mehner ist Journalist und Mitinitiator des Elly Beinhorn Laufs.
Der 2. Elly Beinhorn Lauf findet am 21. Oktober 2012 statt. Die Distanz: 10 Kilometer von Schönefeld zum Landschaftspark Johannisthal/Adlershof.
Informationen und Anmeldung:www. johannisthal.net