Den Ursachen der Angst auf der Spur
HU-Psychologen bieten Hilfe für Patienten mit Zwangsstörungen
Sie waschen aus Furcht vor ansteckenden Krankheiten ständig die Hände oder fahren in steter Sorge, einen tödlichen Unfall verursacht zu haben, immer wieder die gleiche Strecke ab – Zwangsstörungen können für die Betroffenen einen normalen Alltag unmöglich machen. Am Institut für Psychologie der Berliner Humboldt-Universität werden solche Patienten nicht nur therapiert, sondern die Forscher gehen auch den Ursachen solcher Erkrankungen auf den Grund und feilen an Behandlungsmethoden der Zukunft.
Psychische Erkrankungen sind auf dem Vormarsch: Auf bis zu 32 Milliarden Euro könnten hierzulande bis 2030 allein die Krankheitskosten steigen, dabei sind die indirekten Kosten durch Fehltage bei der Arbeit noch gar nicht mitgerechnet. Vor 20 Jahren waren psychische Erkrankungen in den Statistiken zu Krankschreibungen und Arbeitsunfähigkeit noch von untergeordneter Bedeutung. Heute seien sie die zweithäufigste Diagnosegruppe, hieß es 2015 im Gesundheitsreport des Dachverbandes der Betriebskrankenkassen e. V. (BKK). Für diese besorgniserregenden Zahlen könnte steigender Stress in einer leistungsorientierten Gesellschaft ebenso verantwortlich sein wie die Tatsache, dass Betroffene sich heute schneller öffnen, weil psychische Krankheiten kein Tabu mehr sind.
Ein Anlaufpunkt für solche Patienten ist die Hochschulambulanz für Psychotherapie und Psychodiagnostik der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) in Adlershof. Hier behandelt Norbert Kathmann, geschäftsführender Direktor des Instituts für Psychologie der HU, vor allem Menschen mit Zwangsstörungen. Manche leiden unter der Vorstellung, dass sie tödliche Krankheiten übertragen könnten, wenn sie Schmutz berührt haben. Die Folge: Waschzwang, irgendwann auch panische Angst, überhaupt vor die Tür zu gehen. „Es gibt auch Fälle, in denen zwanghafte Gedanken die Menschen peinigen. Das kann sehr schambehaftet sein, etwa wenn eine Mutter immer wieder denkt, sie könne ihrem Kind etwas antun.“
Wie helfen in Fällen, in denen erdrückende Gedanken und Vorstellungen sich nicht mehr abstellen lassen? Kathmann und seine Kollegen setzen auf die sogenannte kognitive Verhaltenstherapie: In einem ersten Schritt wird dem Problem in therapeutischen Sitzungen auf den Grund gegangen. Es folgen Übungen, in denen der Patient mit seinen Ängsten konfrontiert wird, zunächst in Begleitung des Therapeuten, später alleine zu Hause: „Die Patienten sollen lernen, dass nichts passiert, wenn sie sich der vermeintlichen Gefahr nähern und so ihre Angst überwinden. In der Übung sollen sie zum Beispiel Schmutz anfassen, auch wenn sie tödliche Bakterien fürchten“, sagt Kathmann. Was einfach klingt, ist oft langwierig: Bis zu 60 Therapiestunden absolvieren die Betroffenen, die Übungen müssen sehr individuell angepasst werden. 50 bis 80 Prozent der Patienten profitieren, später erleiden aber manche einen Rückfall. Ohne Therapie, betont der Psychologe, seien Zwangsstörungen gar nicht in den Griff zu bekommen.
Fast alle von Kathmanns Patienten nehmen an einem Forschungsprogramm teil, das den Ursachen der Zwangsstörungen durch neuropsychologische Experimente auf den Grund geht. Die Forscher schauen sich an, was in bestimmten Stresssituationen im Gehirn von Erkrankten und Gesunden vor sich geht. In Tests müssen Versuchsteilnehmer unter Zeitdruck durch Knopfdruck zwischen Falsch und Richtig entscheiden. „Zwangskranke produzieren im Gehirn ein verstärktes Alarmsignal für mögliche Fehler, auch dann noch, wenn sie bereits erfolgreich therapiert wurden“, erklärt Kathmann. Noch ist nichts darüber bekannt, ob solche „Verletzlichkeiten des Gehirns“, wie Kathmann es formuliert, genetisch bedingt sind oder sich durch ein angstgeprägtes familiäres Umfeld gewissermaßen eingefräst haben.
In diese Richtung will der 59-Jährige weiterforschen, auch um eines Tages einer noch effektiveren Behandlung von Zwangsstörungen näher zu kommen. Vorsichtige Versuche mit magnetischer Stimulation des Hirns gibt es bereits: „Wir denken, mit gezielten Stimulationen bestimmter Bereiche des Gehirns könnten wir mehr erreichen als mit Medikamenten.“ Seine Zunft müsse sich angesichts des Vormarschs psychischer Störungen auch Gedanken machen über die ungleiche Verteilung von Therapieangeboten: „In Berlin-Charlottenburg gibt es an jeder Straßenecke eine Praxis, auf dem Land können Sie lange suchen. Da ist noch Raum für Optimierung.“
Von Claudia Wessling für Adlershof Journal