Teilen mit Struktur
Wie unsere Wissenschaftler abgeben und trotzdem gewinnen
BESSY II ist ein Großgerät. So etwas kann sich kaum eine Hochschule oder Forschungsein-richtung leisten. Deshalb ist Teilhabe angesagt: Forscher aus aller Welt kommen nach Adlershof, um BESSYs brillante Photonenpulse für ihre Experimente zu nutzen. Das ist sinnvoll, denn: Wo Forscher unterschiedlicher Disziplinen zusammenkommen, teilen sie ihr Wissen – zu gegenseitig höherem Nutzen. Im Forschungsnetzwerk IRIS Adlershof wird dieses Prinzip seit 2009 konsequent und sehr erfolgreich umgesetzt.
Der neue Brückenprofessor kam am 1. Oktober. Emil List-Kratochvil von der Technischen Universität Graz wechselte an die Berliner Humboldt-Universität (HU). Mit Brückenbau im engeren Sinn befasst er sich aber nicht. List-Kratochvil baut vielmehr Brücken für das interdisziplinäre Forschungsnetzwerk IRIS Adlershof. Je zur Hälfte lehrt und forscht er am Institut für Physik und am Institut für Chemie – und widmet sich hybriden Bauelementen. Es geht um Fusionen organischer und anorganischer Materialien, in die optische Industrie und Elektronikbranche große Hoffnungen setzen. Und es geht um das Miteinander nasschemischer Verfahren mit dem trockenen in Vakuumkammern betriebenen Aufwachsen kristalliner Halbleiter. So gesehen muss der neue Professor doch Brücken bauen: zwischen bisher strikt getrennten wissenschaftlichen und verfahrenstechnischen Lagern.
IRIS Adlershof steht für „Integrative Research Institute for the Sciences”. Seit 2009 arbeitet es an der Institutionalisierung integrierter Spitzenforschung über die Fächergrenzen der Physik, Chemie, Computer Sciences und Mathematik hinweg. Forschungsfelder sind: „Hybridsysteme für Optik und Elektronik“ sowie „Raum-Zeit-Materie“. Im Zentrum steht die Adlershofer Geschäftsstelle um Nikolai Puhlmann, die den strukturellen Rahmen für die vernetzte Forschung schafft – und ihr gemeinsam mit IRIS-Sprecher Prof. Jürgen P. Rabe eine Stimme in den Verwaltungsabläufen und der Mittelverteilung der Hochschule gibt. Zudem unterstützt sie die Forscher des Netzwerks bei den Formalien rund um die Drittmitteleinwerbung. Kurz: Sie klemmt sich dahinter, dass interdisziplinäre Forschung nicht länger durch die Raster fällt, weil Verwaltungsdenken in Fachbereichen keinen Platz und keine Mittel für sie vorsieht.
Das Teilen von Wissen und die Zusammenarbeit über alle Grenzen hinweg – also Lehrstühle, Fachbereiche, Institute, verschiedene Berliner und nicht zuletzt auch internationale Universitäten – will organisiert sein. „Wir koordinieren den Austausch der Wissenschaftler, organisieren Kongresse und Reisen und beantragen Mittel für die Infrastruktur“, sagt Puhlmann. Mit Erfolg. So stellen der Bund, das Land Berlin und die HU insgesamt 44 Millionen Euro für einen Neubau in Adlershof bereit, in dem IRIS ab 2018 Büros und Labors beziehen wird. Darin millionenschwere Geräte – um mit neuen Verfahren neue hybride Materialien und Bauelemente realisieren zu können.
Wo teure Instrumente, Geräte und Anlagen angeschafft werden müssen, gilt in der öffentlich finanzierten Forschung das Gebot des Teilens. So ist es im Joint Laboratory for Structural Research (JLSR) und im Open Access Laboratory (OPAL) for Advanced Materials. Die in IRIS vernetzten Institute von HU, Technischer Universität Berlin und Helmholtz-Zentrum Berlin (HZB) können darauf zugreifen. Sie stehen auch Start-ups und externen Industrieforschern offen.
Erst recht gilt das Prinzip des Teilens an Großgeräten wie BESSY II. Jährlich führen an den Strahllinien (Beamlines) der brillanten Photonenquelle 700 bis 800 Forschergruppen Experimente durch. Etwa 60 Prozent kommen aus deutschen Hochschulen, 30 Prozent aus dem europäischen Ausland, der Rest von noch weiter her. „Manche Beamlines sind um Faktor sechs, andere um Faktor 1,5 überbucht“, berichtet Antje Vollmer, die am HZB den Zugang zu BESSY II koordiniert.
Auch hier basiert das Teilen auf viel Organisationsarbeit. Halbjährlich berät ein 80-köpfiges internationales wissenschaftliches Gremium über jeweils hunderte eingegangene Proposals von Forschern aus aller Welt, vergibt Noten und diskutiert strittige Fälle. „Hier entscheidet sich, wer Messzeiten bekommt“, so Vollmer. Um die begehrten Experimentierplätze an der Photonenquelle rund um die Uhr auslasten zu können, takten Vollmer und ihre Kollegen die Abläufe minutiös durch. Eine Fülle von Leitfäden, Sicherheitsnachweisen und im Vorfeld fristgerecht einzureichender Anträge sorgt dafür, dass Teams hier gründlich vorbereitet ankommen. Denn damit das Teilen funktioniert, braucht es vor allem eins: Struktur.
Von Peter Trechow für Adlershof Journal