Schnecken, Kunst und Mikrosysteme
Entschleunigung im ZMM-Forscheralltag
Die Berliner Künstlerin Margund Smolka arbeitet derzeit in einem Wettlauf mit dem Winter. Sie dreht 90 Filme für ihre Videoinstallation „in search of“ im neuen Zentrum für Mikrosysteme und Materialien in Adlershof (ZMM), doch ihre Darsteller drohen in der kalten Jahreszeit schlapp zu machen. Beeilen werden sie sich trotzdem nicht: Es handelt sich um Schnecken.
Mikrosysteme und ihre Komponenten sind für das menschliche Auge kaum wahrnehmbar. Erst recht bleiben die rasenden Elektronen in ihren Miniaturleiterbahnen unsichtbar. Es ist wie so oft mit Hightech. Sie ist omnipräsent. Alle wissen um ihre Existenz. Kaum jemand durchschaut sie. Doch wer denkt bei Mikrosystemtechnik an Schnecken?
Mitmenschen aus ihrem Trott wecken
Es muss jemand sein, der Technik von einem eigenen Standpunkt aus betrachtet. Jemand, der das Spiel mit Assoziationen und Dimensionen liebt. Analogien zieht. Verstört, um Mitmenschen aus ihrem Trott zu wecken. Notfalls mit Videos von Schnecken.
Schnecken-Videoinstallateurin
Dieser Jemand ist Margund Smolka. Bildende Künstlerin aus Berlin, die vor Jahren im Forum Adlershof mit ihrer Kollegin Josefine Günschel die Installation „Kopfbewegung – heads, shifting“ realisierte. Nun wird sie im ZMM zur Schnecken-Installateurin. Genauer: zur Schnecken-Videoinstallateurin. Auf allen Etagen des Zentrums werden künftig zweiminütige Videoloops zu sehen sein, die von Tag zu Tag wechseln und nach jeweils zwei Wochen in die nächste Etage springen. Dafür dreht Smolka aktuell mit Hochdruck 90 Filme. Der Winter naht. Bei den 60 Darstellern ihrer Filme, die vorübergehend im Terrarium auf ihrer Fensterbank wohnen, macht sich Müdigkeit breit.
Schnecken-Videos? Klingt nicht gerade nach Höchstspannung. Aber die herrscht ja auch schon im Alltag der Forscher. „Es geht um Entschleunigung“, sagt Smolka. Sie lässt die Schnecken das ZMM in ihrem Tempo begehen. Gemächlich ziehen sie ihre Spur über fotografierte Innen- und Außenansichten, Laborinstrumente oder auch Materialien des Gebäudes. Mal stimmen die Größenverhältnisse, mal wirken die Schnecken riesig. Die Dimensionen wechseln ganz so wie bei Mikrosystemtechnikern, die zwischen der Welt ihrer Mikroskope und ihrer Welt hin und her wechseln. In internationalen Netzwerken forschen, aber selbst nur dank Mikrosystemen leben. Jede Körperzelle ein System. Feinste Sensoren fühlen, riechen, orientieren. Wie sehen Schnecken? Womit atmen sie? Wie groß ist ihr Herz?
Kostenloser Honig für ZMM-Mieter
Dass Smolka ihre Kunst am Bau im ZMM installiert und es dort ein weiteres Kunstprojekt ausgerechnet von Josefine Günschel geben wird, hat mit Überzeugungskraft zu tun. Beide haben ihre Entwürfe wie 18 weitere Künstler bei einem ausgeschriebenen Wettbewerb eingereicht. Abhängig vom Projektvolumen fließen bei Neubauten öffentlicher Gebäude 0,5 bis 1,5 Prozent des Budgets in Kunst am Bau. So tradiert der Staat das Mäzenatentum früherer Fürsten und Könige – und bricht zugleich mit dieser Tradition. Lag es früher im Gutdünken der Herrschenden, über Kunst zu richten, folgt die Auswahl heute einem demokratischen Prozess.
So kommen statt Pomp und Gloria oft subtile Ideen zum Zuge, wie Smolka und Günschel sie eingereicht haben. Letztere wird in Kooperation mit einer Imkerin Bienenstöcke auf dem Gelände des ZMM aufstellen. Bienenvölker als Vorbild für vernetzte Mikrosysteme. Jedes der gut 50.000 Individuen frei beweglich und doch einem Ganzen verpflichtet, das selbst dann kompetent und flexibel reagiert, wenn Unvorhersehbares geschieht. Günschel sieht darin ein Vorbild für das ZMM, das als Netzwerk von Individuen eine Brutstätte für neue Ideen sein wird. Damit die menschliche Population die Intelligenzia im Garten mitbekommt, wird deren Jahresproduktion von circa 80 kg Honig künftig kostenlos an die Mieter im ZMM verteilt.
Wanderausstellung
Und auf noch etwas können sich die Adlershofer Netzwerker freuen: Im Spätherbst wird eine Wanderausstellung alle 20 Entwürfe für die Kunst am ZMM-Bau präsentieren. Voraussichtlich in fünf Gebäuden bekommen Forscher die Gelegenheit, sich und ihr Schaffen im Spiegel der bildenden Kunst zu betrachten.
von Peter Trechow